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Europas Raum als Störfaktor

Der Verkehr wird durch den EG-Binnenmarkt enorm anwachsen/ Bahnen schlecht vorbereitet/ taz-Serie zum EG-Binnenmarkt, Teil 5  ■ Von Annette Jensen

Berlin (taz) – Die Kartoffeln, die der Münchner Hausmann in den Kochtopf kippt, stammen von bavarischen Äckern. Dennoch haben sie zwei lange Reisen über die Alpen hinter sich: In Italien wurden sie gewaschen und verpackt, bevor sie in einem Laster wieder die Heimreise antraten. Der Erdapfeltourismus ist durchaus nichts Ungewöhnliches: Der Transport kostet das Unternehmen weit weniger als die Lohndifferenz zwischen Deutschland und Italien.

Mit der Einführung des EG- Binnenmarkts wird der Güterverkehr auf Europas Straßen weiter wachsen. Experten rechnen mit einer Zunahme von 30 bis 70 Prozent bis zum Ende des Jahrtausends. 33.500 Lkw werden dann nach Vorhersage des Basler Prognos Instituts Tag für Tag über Deutschlands Grenzen rollen. „Klar ist in jedem Fall, daß in den nächsten zehn Jahren die Folgen der EG- Politik sich weit stärker auf den Güterverkehr in der Bundesrepublik auswirken werden als die Integration der neuen Bundesländer“, so Helmut Holzapfel von der Gesamthochschule Kassel. Allein die Ausweitung der „just in time“-Produktion, die das Lager praktisch auf die Straße verlegt, und die Einrichtung von Zentraldepots dürfte zu 15 bis 30 Prozent mehr Verkehr führen.

Zwar wird der EG-Verkehrskommissar Karel van Miert nicht müde, schöne Fensterreden über eine Umkehr in der Verkehrspolitik zu fordern; tatsächlich steuert Europa aber weiter auf dem Kurs, der Wirtschafts- und Transportwachstum parallel setzt. Die Vorstellung vom gemeinsamen Markt, bei dem die Kundin in Andalusien die gleichen Produkte findet wie der bayrische Hausmann, reduziert den Raum zwischen HerstellerIn und KonsumentIn auf ein Hindernis, das möglichst billig und schnell überwunden werden soll. 12.000 Kilometer neue Autobahnen wurden als „gemeinschaftliches Interesse“ definiert und sollen in den nächsten zehn Jahren insbesondere in den Randregionen gebaut werden. Ziel ist es, daß Fernstraßenniveau an das der Zentren anzupassen.

Obwohl der Binnenmarkt dem Spediteursgewerbe gute Zuwächse verspricht, protestieren die deutschen Fuhrunternehmer noch dagegen, daß Lkw aus allen Mitgliedsländern überall auf- und abladen dürfen. Grund dafür sind die relativ hohen Steuern für die Brummis hierzulande. Verkehrsminister Krause müht sich bisher vergeblich, EG-weite Mindeststeuern durchzusetzen – Voraussetzung für die Absenkung der Lkw-Steuern in Deutschland bei gleichzeitiger Einführung einer Vignette. Obwohl Karel van Miert immer wieder betont, alle Folgekosten des Verkehrs sollten auch durch ihn bezahlt werden, schlägt die Kommission eine Steuer von nur 2.468 Ecu für einen 38-Tonner vor – gerade mal die Hälfte des heutigen deutschen Steuersatzes. Schon der deutsche Steuersatz reicht nicht aus, die Kosten für Straßenbau und -erhalt zu decken – ganz abgesehen von den Kosten für Umweltschäden und Unfallopfer.

Die wachsende Konkurrenz der Fuhrunternehmer wird zunächst zu Überkapazitäten und damit zu Dumpingpreisen führen, prognostiziert eine von Greenpeace beim Institut für regionale Studien in Europa (EURES) in Auftrag gegebene Studie. Nur wenige Großunternehmen und einige flexible Kleinanbieter werden den ruinösen Wettbewerb überleben. Der Modernisierungsschub bei den Speditionen aber wird die Bahn als Gütertransporteurin noch weiter ins Hintertreffen bringen.

Die Bahnen sind nicht nur unflexibler als die Lkw; sie sind auch keineswegs gut auf die Öffnung der Grenzen vorbereitet. Verschiedene Spurbreiten und Stromsysteme machen den Langstreckenvorteil des Verkehrsmittels Bahn oft zunichte. Mehr als 30 Jahre EG haben nichts daran geändert, daß die nationalen Eisenbahnen nur bis zu den Landesgrenzen dachten und planten. Selbst jüngste Entwicklungen wie der französische Schnellzug TGV und der deutsche ICE können rein technisch nicht die Gleise des anderen Systems benutzen. Hinzu kommt, daß viele Schienenstrecken schon heute voll ausgelastet sind. Milliardeninvestitionen für neue Gleise und Umladestationen für den kombinierten Verkehr wären nötig, wenn die Bahnen beim Güterferntransport nicht noch weiter abgehängt werden sollen. Noch 1965 wurde ein Drittel der Güter in Europa über die Schiene transportiert, heute ist es ein Sechstel.

Im Sommer 1991 hat der EG- Ministerrat beschlossen, daß die europäischen Eisenbahnen als wirtschaftliche Unternehmen funktionieren sollen. Eine klare Kostentrennung von Schienennetz und rollendem Material wird vorgeschrieben; der Netzbetreiber soll kostendeckende Preise verlangen. Wenn der Staat oder einzelne Gemeinden einen Zug fahren lassen wollen, müssen sie dafür zahlen. Während Fernzüge die Kosten für die Schienennutzung meist hereinfahren können, sorgen Nahverkehrszüge fast immer für rote Zahlen. Künftig werden sie es nicht nur schwerer haben, attraktive und damit teurere Nutzungszeiten zu ergattern. Angesichts leerer Steuersäckel ist zu befürchten, daß der Nahverkehr auf dem Land weiter verödet. Und auch die Vereinbarungen über ein europäisches Schnellbahnnetz mit riesigen Tunnelprojekten unter dem Ärmelkanal und den Pyrennäen bestätigen, daß beim EG-Binnenmarkt vor allem an weite Wege gedacht wird.

Beim Individualverkehr prognostizieren Verkehrsexperten trotz wachsenden Staus allerorten hohe Zuwachsraten – insbesondere in den ärmeren Regionen Europas. Die von EG-Kommissar van Miert in Auftrag gegebene Studie „Transport 2000 Plus“ sagt voraus: „Die Fahrten im privaten Pkw werden in Westeuropa (bis 2010) um 70 Prozent, in Südeuropa um 500 Prozent und in Osteuropa vielleicht um 1.000 Prozent zunehmen.“ Und auch am Himmel werden sich immer mehr Flugzeuge tummeln. Die Liberalisierung wird ähnliche Folgen haben wie beim Lkw-Verkehr: Preiskrieg und Marktausweitung; mindestens sieben Prozent mehr pro Jahr sollen es sein. Weil viele Großflughäfen an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen, entstehen immer mehr Regionalflughäfen.

Europa rückt weiter zusammen, Raum erscheint im freien Handel nur als zu überwindender Störfaktor. „Es ist wahrscheinlich, daß der geplante Ausbau der transeuropäischen Netze nicht nur mehr Verkehr erzeugt, sondern insofern eine gewaltige Fehlinvestition darstellt, als er neue Bedürfnisse schafft, anstatt die vorhandenen zu befriedigen“, schlußfolgern die EURES-Forscher. So kann man bald nicht nur den gleichen Joghurt, sondern auch den gleichen Stau europaweit genießen.

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