: Es ist zum Schreien-betr.: "Genossen ohne Mumm und Mut", Tagesthema, taz vom 10.12.92
betr.: „Genossen ohne Mumm und Mut“, Tagesthema,
taz vom 10.12.92
Es ist zum Schreien. Tucholsky hat die SPD seinerzeit hinreichend charakterisiert. Warum nur muß man auch heute, im Jahre 1992, immer an ihn denken, wenn diese Partei tut, was sie für Politik hält? Wenn sie jetzt sagen könnte: Ja, wir haben uns verbogen, wir haben verraten, was uns vor Jahresfrist noch unverzichtbar erschien. Wir haben das Asylrecht verkauft. Wir haben gefeilscht, wir haben einen Preis gefordert. Und wir haben bekommen:
Erleichterte Einbürgerung für hier lebende Ausländer. Die Möglichkeit der Doppelstaatsbürgerschaft. Abkehr vom völkisch-biologistischen Staatsbürgerschaftsrecht und Einführung des Territorialprinzips (Wer in Deutschland geboren wird, erhält automatisch und ohne Rücksicht auf die Herkunft der Eltern die deutsche Staatsbürgerschaft.). Die Anerkennung der Tatsache, daß dieses Land ein Einwanderungsland ist.
Aber das kann die SPD nicht sagen. Sie kann nur sagen: Wir haben das Asylrecht nicht verkauft. Wir haben es verschenkt. Wir waren taktisch, wir waren klug, wir haben Stimmungslagen berücksichtigt, wir haben Schlimmeres verhütet. Und wir haben das bekommen, was wir verlangt haben: nichts.
Es ist zum Schreien. Ulrich Holberg, Berlin
Nun ist es also vollbracht: Deutschland nähert sich ganz knapp vor dem Europäischen Binnenmarkt den anderen EG-Ländern an: Nur keine Ausländer, ist die Devise. Italien schiebt gnadenlos ab, in Frankreich kommt sowieso keiner rein, und Großbritannien hat genug eigene Probleme. Kanzler Kohl baut sein Europäisches Haus. [...]
Bravo. Wir bauen uns einen antifaschistischen Schutzwall. Nicht etwa, um uns vor Faschismus zu schützen, wir bauen ihn, um die anderen vor unserem Faschismus zu schützen. Wir rennen mal wieder vor den Problemen weg. Nicht die Asylsuchenden sind das Problem, denn die stellen ihre Asylheime nicht in die Schußbahn der Molotowcocktails, auch nicht die Molli- Werfer sind das Problem: Es sind die sozialen Mißstände, die vor allem durch die Einheit, aber auch durch die Rezession hervorgerufen werden. Wir wälzen unsere Probleme auf Drittländer, vor allem auf Nicht-EG-Länder, ab, die wir auch noch großzügig unterstützen: Wir geben ihnen nicht ganz feuerfeste Asylheime, zeigen ihnen, wie man Mollis baut (ein paar Skins werden sich schon finden), und vielleicht kann man ja sogar billige Waffen von Daimler oder aus ehemaligen NVA-Beständen kostengünstig abgeben: Kanzler Kohl fördert also Arbeitsplätze [...] und ganz Deutschland baut mit Krupp-Stahl und RAG-Kohle Asylhütten und ist froh und glücklich reich und satt und... Doch wer bezahlt unsere Renten? Wer macht Döner Kebab? Wo bleibt die Pizza? Weihnachten fällt wohl aus, denn Jesus war ein Asylsuchender aus dem Himmel, aber er war nicht politisch verfolgt. Armes Deutschland... Gilbert Kloss, Castrop-Rauxel
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