: Fliegt Erich heute zu Margot nach Chile?
■ Die Zeichen im Verfahren gegen Honecker stehen auf Einstellung und unverzügliche Haftentlassung/ Gutachter bestätigen Verhandlungsunfähigkeit
Berlin (dpa/taz) – Vieles deutet darauf hin, daß bereits heute im Prozeß gegen Honecker & Co. das Verfahren gegen den 80jährigen Ex-Staatsratsvorsitzenden eingestellt und er aus der Haft entlassen wird. Nach Angaben von Honecker-Anwalt Friedrich Wolff ist für den zehnten Verhandlungstag keine weitere Anhörung der Sachverständigen, die von einer Verhandlungsunfähigkeit des früheren Staats- und Parteichefs der DDR ausgehen, geplant. Das Gutachten der Mediziner liegt den Richtern der 27. Strafkammer bereits seit Montag nachmittag vor, und eine Entscheidung kann auch außerhalb der Verhandlung gefällt werden. Sollte, wie Honeckers anderer Anwalt, Nicolas Becker, es für möglich hält, ein Einstellungsurteil ergehen, könnte Honecker unverzüglich aus der Haft entlassen werden, das nächste Flugzeug nach Chile besteigen und zu Frau und Tochter fliegen. Die chilenische Regierung soll Margot Honecker bereits zugesagt haben, daß sie ihn aufnehmen werde.
Auch die Staatsanwaltschaft, meint Becker, werde sich der Einstellung des Verfahrens nicht entgegenstellen. „Bei allen Meinungsunterschieden haben die Staatsanwälte in den letzten Wochen gezeigt, daß sie keine Menschenfresser sind.“ Becker verwies erneut darauf, daß Honecker nur noch eine Lebenserwartung von drei bis sechs Monaten habe. Nach seinen Angaben können auch die Nebenkläger eine Einstellungsentscheidung des Gerichts nicht verhindern. Dazu seien diese höchstwahrscheinlich gar nicht befugt. Der Anwalt der Mutter des 1986 erschossenen Michael Bittner hatte bereits vor Tagen angekündigt, sich mit allen Mitteln einer Freilassung Honeckers zu widersetzen.
Gegen eine sofortige Freilassung spricht allerdings, daß gegen Honecker noch ein zweiter Haftbefehl wegen der privilegierten Versorgung der SED-Prominenz in Wandlitz besteht. Auch dieser müßte vor einer Entlassung erst aufgehoben werden.
In seinem Gutachten hat der Berliner Rechtsmediziner Professor Volkmar Schneider vorsichtig die Frage der weiteren Verhandlungsfähigkeit Honeckers verneint: Sollte das Verfahren noch „bis ins kommende Frühjahr hinein reichen, dann wird man wohl sagen müssen, daß hier die Erkrankung von Herrn Honecker Grenzen setzt, die dieses Ziel zu erreichen nicht erlauben“. Und: „Bei Herrn Erich Honecker besteht ein Zustand, wo sich Leben und Sterben überlappen, wobei der Vorgang des Sterbens nunmehr mehr Gewicht bekommt, zumindest wenn man unterstellt, daß das Tumorwachstum in der bisherigen Geschwindigkeit fortschreitet.“ ja
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen