Unbehaglich im Spagat

Chinesische ExilautorInnen trafen sich in Heidelberg  ■ Von Irmy Schweiger

„Ein chinesischer Schriftsteller kann während seines ersten Monats im Ausland ein ganzes Buch schreiben; nach drei Monaten kann er noch einen Essay schreiben; nach einem Jahr bringt er kein Zeichen mehr aufs Papier.“ Einhelliges Nicken in der zwölfköpfigen Runde chinesischer ExilschriftstellerInnen, die sich auf Einladung des Sinologen und Leibniz-Preisträgers Rudolf G.Wagner und mit finanzieller Unterstützung der Heinrich-Böll- Stiftung zum viertägigen Erfahrungsaustausch und Diskussionsmarathon auf „neutralem“ Heidelberger Boden zusammengefunden hat.

„Was bleibt uns noch zu schreiben?“, so die Quintessenz des allgemeinen Katzenjammers. Nach wie vor bestimmt China die Stoff- und Themenwahl der AutorInnen, Weltliteratur existiert lediglich in zaghaftem name-dropping. Ihre Rezeption ist zunächst ein sprachliches Dilemma, denn von Ausnahmen abgesehen beherrschen sie alle keine Fremdsprachen; Übersetzungen sind dürftig oder gar nicht vorhanden: ein selbstgewähltes Exil im Exil? Die Fortsetzung der chinesischen Tradition der Abschottung? Die Exilsituation rüttelt nicht nur an der chinesischen Identität, viel bedrohlicher scheint die Frage nach dem Selbstverständnis als SchriftstellerIn zu sein. Das sozialistische Koordinatensystem existiert fast nur noch als Fiktion; entlassen in eine Gesellschaft, die eine Vielzahl von Funktionssystemen herausgebildet hat, gilt es, aus der übergreifenden kollektiven Identität eine eigene zu entwickeln. 1989 hat sich der chinesische Sozialismus noch einmal kräftig selbst unterstrichen, so daß der Spagat für die Exilierten oder Emigrierten immer unbehaglicher wird. China hat eine längere und stabilere Mauer gebaut – und frühzeitiger außerdem.

„Die einzigen Leser waren die Flammen“, berichtet Gu Cheng über seine ersten Gedichte, die er in Zeiten der Kulturrevolution (1966-76) heimlich verfaßte. Mit dem Sturz der Viererbande im Jahre 1976 meldet sich die um ihre Jugend und Bildung betrogene „verlorene Generaton“ literarisch zu Wort und versucht, nach der Sprachlosigkeit der Kulturrevolution, neue Kreativität zu entfalten. Die kurze Tauwetterperiode des „Pekinger Frühlings“ (1978-80) erlaubt ein unüberhörbares literarisches Aufatmen: eine Phase der Vergangenheitsbewältigung und Trauerarbeit in Form von „Trümmer- und Narbenliteratur“ beginnt. Pathetischer Revolutionskitsch und siegessichere Parteihymnen weichen nachkulturrevolutionärer Skepsis und gegenwartsbezogenen Reflexionen. Literatur wird wieder zum Selbstausdruck, nachdem sie von Mao Anfang der vierziger Jahre eindeutig dem Primat der Politik untergeordnet und zur Propagierung der Parteiziele instrumentalisiert worden war.

„Dekadent, westlich, unchinesisch, modernistisch, deformiert, krankhaft, schlecht“ sind die verbalen Keulen, mit denen 1981 bis 1983 die offiziell verordnete „Kampagne gegen geistige Verschmutzung“ dieser Entwicklung ein jähes Ende bereitet. Gefragt sind wiederum propagandistische Schönwettergesänge, die das Hohelied vom Sozialismus singen. Die in den folgenden Jahren wirtschaftlich motivierte Öffnung Chinas, Hand in Hand mit halbherziger Liberalisierung und Reformpolitik, wirbt um ausländische Anerkennung unter anderem auf künstlerischem Gebiet, was einer Minderheit von KünstlerInnen und SchriftstellerInnen auch außerhalb der Landesgrenzen Gehör verschafft. Übersetzungen und kultureller Austausch lassen befristet Freiräume im „Reich der Mitte“ entstehen. Literarische Aufbruchstimmung – vor allem unter weiblichen Autorinnen – münden in eine wahre Publikations- und Schreibwut. Im Juni 1989 zieht eine um den Machtverlust fürchtende Betonkopf-Riege jedoch erneut eine deutliche Trennlinie zwischen sich und den „politischen Abweichlern“ und setzt deren ProtagonistInnen auf schwarze Listen. Für viele bleibt nur die Flucht ins Exil.

Zum Beipsiel Gu Cheng: nach drei Jahren wird die Schulausbildung des 1956 in Peking geborenen Sohnes eines Lyrikers zwangsbeendet. 1969 wird seine Familie „zur Umerziehung aufs Land verschickt“ – eine beliebte Erziehungsmaßnahme für unliebsame Intellektuelle. Als er sich 1976 in Peking wiederfindet, hat sein Leben noch gar nicht begonnen. In Lyrik und Malerei sucht er einen Ausdruck für sich und seine Generation: „Die Nacht hat mir schwarze Augen gegeben/ ich gehe mit ihnen das Licht suchen.“ Assoziationen brechen hervor, die sich später in dunklen, zum Teil hermetischen Bildern fortsetzen und ihn in den Mittelpunkt der „Kampagne gegen geistige Verschmutzung“ rücken.

„Obskure Lyrik“ ist das Schmähwort der offiziellen Tugendwächter, das von einer Gruppe gleichaltriger und gleichgesinnter DichterInnen um den inzwischen abwechselnd im dänischen und holländischen Exil lebenden Lyriker Bei Dao als Selbstbezeichnung übernommen wird. In selbstverlegten und hektographierten Manuskripten bringen sie ihre Schriften in Umlauf. In größtenteils freien Versen suchen sie nach adäquaten Ausdrucksformen: eine radikale und schutzlose Suche nach dem „Selbst“ sprengt das überlieferte Sprachkorsett.

„Schlimmer als Baudelaire“, titelte eine der größten chinesischen Tageszeitungen und gefährdete dadurch nicht nur Gu Chengs Heirat mit seiner heutigen Frau Xie Ye, sondern seine gesamte Arbeits- und Lebensmöglichkeit in China, so daß er bereits 1987 zunächst ins europäische, später ins neuseeländische Exil ging, wo er heute mit seinem spartanischen Lebensstil – ganz in der Tradition des daoistischen Eremiten – der Zivilisation abgesagt hat.

„Die Erde, das Stück Boden, das China heißt, gibt es nicht mehr für mich. Aber meine Kultur, mein Wissen und meine Ideen besitze ich noch“, antwortete der 1951 in Peking geborene Lyriker Duo Duo vor Jahresfrist in einem Interview auf die Frage, ob er sich im Exil von seinen Wurzeln abgeschnitten fühle. Auch er gehört zu den Autoren, die trotz oder gerade wegen der schmerzvollen Erfahrung der „Landverschickung“ keine sozialistische Modellyrik mehr schreiben wollten und fortan der Unverständlichkeit und des verderblichen Einflusses auf den „Volksgeist“ geziehen wurden. Als „intern überwachtes Element“ war er gezwungen, seine Manuskripte, die er neben seinen journalistischen Beiträgen für eine Bauernzeitung verfaßte, bei Freunden zu verstecken und sich zeitweilig in eine „innere Emigration“ zurückzuziehen. Seine Teilnahme an der Demokratiebewegung 1989 zwang ihn zur Flucht, mit ausländischer Hilfe gelangte er ins kanadische Exil und über London nach Leiden (Niederlande), wo er am Sinologischen Seminar als writer in exile Vorlesungen hält und regelmäßig für das NRC handelsblad Kolumnen schreibt. Und danach? „Nächsten März gehe ich wieder zurück – nach Kanada.“

Politische Bevormundung stand für den inzwischen seit fünf Jahren in Paris lebenden Dramatiker Gao Xingjian (Jahrgang 1940) auch in sozialistischen Zeiten nicht im Zentrum seiner Schaffensmotivation. Seine Stücke, die Anfang der achtziger Jahre an der Pekinger Volksbühne aufgeführt wurden, waren deshalb politisch nicht weniger anstößig und wurden mit Verboten belegt. Der Pionier des avancierten Sprechtheaters der Volksrepublik erlebt sein französisches Exil – und darin unterscheidet er sich vom größten Teil der versammelten Runde – als Befreiung. Orientiert an Brecht, Beckett und Artaud, versucht er eine Verbindung von traditionell chinesischem mit westlichem Theater. Die Stockholmer Bühne hat sich soeben die Aufführungsrechte für zehn seiner Stücke gesichert. Im nächsten Jahr ist die Uraufführung seines neuesten, noch in Arbeit befindlichen Stückes bei den Wiener Burgfestspielen geplant. Die überwiegend psychologisch angelegten Stücke kreisen um Selbstfindung und Selbsterkenntnis; Grenzen und Hemmungen darf es darin nicht geben. Ob er wieder nach China zurückzukehren gedenke? „Ich könnte es niemals mehr ertragen, mir vorschreiben zu lassen, was ich zu denken und zu schreiben habe.“ Lauter Helden?

Zunächst führen die meisten von ihnen noch den stetigen Kampf um die banale Alltagsbewältigung. „Unter Mao wurden wir auf die Felder und in die Fabriken geschickt, um vom Volk zu lernen – hier müssen wir auf die Felder und in die Fabriken, um unsere materielle Existenz zu sichern.“ Sarkastisch bringt die inzwischen in den USA verheiratete Zhang Xinxin (geb. 1953) aus Nanking – eine Art rasende Reporterin – die für den Großteil der ExilchinesInnen geltende Tragikomödie auf den Punkt. Die bürokratischen Hürdenläufe um Aufenthaltsgenehmigung und Papiere, der aufreibende Kampf mit läppischen Nichtigkeiten bestimmen den Alltag des Exils und selten haftet diesem Leiden etwas Heroisches an. Die fatale Abgeschnittenheit von der Muttersprache mündet nicht selten in einen Autismus und den Versuch, sich — gegen alles Fremde — in der Vergangenheit einzuschließen. Die wenigen Oasen, seien es chinesische Buchläden oder Chinatowns, sind nur vorübergehende Surrogate zur Milderung des Kulturschocks, für das Leben woanders sind sie nicht besonders hilfreich.

„Ich schreibe nicht mehr für einen konkreten Leser“, erteilt Duo Duo einer funktionalisierten Literatur die Absage. Was Gao Xingjian in seinen Aufführungen am meisten fürchtet, sind chinesische TheaterbesucherInnen, die ihn nörgelnd der Unverständlichkeit und des Ausverkaufs der chinesischen Tradition bezichtigen. Vom westlichen Publikum hingegen wird chinesische Literatur interessiert als Schaufenster Chinas, als ein Lichtstrahl, der die Black box erhellt, goutiert. Sie würde diese Vermittlerrolle einbüßen, wenn China sich selbst transparent machte.

Für viele besteht der Anfang neuer Kreativität in der Rückkehr, beziehungsweise der erstmaligen Hinwendung zu den eigenen Wurzeln. Erst im Ausland beginnen die meisten ihre daostischen, konfuzianistischen oder buddhistischen Klassiker zu rezipieren, in Aarhus, New York, Leiden, Paris, Lyttelton oder Heidelberg.