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Leere Gruben, leere Gleise

■ Alle schlesischen Kohlegruben sind im Ausstand, die Eisenbahner haben sich angeschlossen, weil es ohnehin nur noch wenig zu transportieren gibt

Kattowitz, in der Grube „Slask“. Ryszard Filip, Chef der Gewerkschaftssektion Solidarność, packt seine Siebensachen für die Belegschaftsversammlung zusammen, während über den uralten Schwarzweißfernseher in seinem Büro die Direktübertragung der Parlamentssitzung in Warschau läuft. In der Grube wird seit Tagen gestreikt, von den 65 schlesischen Kohlegruben streiken 63, dem Ausstand hat sich auch der Eisenbahnknotenpunkt Tarnowskie Gory angeschlossen, in den Hütten der Region läuft die Urabstimmung. In Warschau herrscht Regierungskrise, nachdem die Mehrheit der Abgeordneten gegen den Willen der mitregierenden Christnationalen den Punkt „Verschärfung des Abtreibungsgesetzes“ zugunsten einer aktuellen Streikdebatte abgesetzt hat.

Seither erhalten die Kumpel in Ruda Slaska per Fernseher Beifall von unerwünschter Seite: von der äußersten Rechten und den Exkommunisten, beide in Opposition zur Regierung Suchocka, die vor einem halben Jahr unter mächtiger Geburtshilfe der Solidarność-Abgeordneten zustande kam. „Dies ist kein Streik gegen die Regierung“, beeilt sich deshalb Ryszard Filip zu versichern, doch genau als solchen faßt ihn die Regierung in Warschau auf. Filip geht hinüber in die Halle, wo gerade die zweite Schicht auf seine Anweisungen wartet, bevor sie sich an ihre Arbeitsplätze begibt.

Vor den über tausend Männern, die dichtgedrängt und rauchend derbe Bemerkungen in schlesischem Polnisch austauschen, fordert Filip dazu auf, Disziplin zu wahren und keinerlei Betrunkene im Betrieb zu dulden. „Wir benehmen uns wie Menschen, nicht wie die im Parlament“, ruft er unter donnerndem Beifall. Für kurze Zeit durchweht den Raum ein Hauch der alten Solidarność-Zeiten, als Polens Arbeiter nächtelang auf Styroporplatten aushielten, wortlos, klaglos, voller Optimismus. Heute dagegen ist in der großen Halle vor einer Krypta der heiligen Barbara, der Schutzheiligen der Bergleute, die mangels kommunistischer Nachstellung jegliche subversive Ausstrahlung verloren hat, von Optimismus nichts mehr zu spüren. „Die Leute sind entschlossen durchzuhalten“, versichert Filip, der bei der Urabstimmung 95 Prozent Jastimmen gezählt hat. Doch sie sind auch ratlos, sie rennen gegen Windmühlen, keine Teilung mehr in Schwarz und Weiß, keine Schuldigen, nur Elend. Wer von uns kann etwas dafür, daß die meisten Gruben hochverschuldet sind, wer kann etwas dafür, daß dem Staatshaushalt das Geld für Subventionen ausgeht, wer ist schuld, daß in manchen Gruben bis zu einer Million Zloty pro geförderter Tonne vom Staat dazugeschossen werden, daß in manchen Gruben der Energieverbrauch zur Förderung einer Tonne Kohle deren Energiegehalt bei weitem übersteigt?

Früher gehörten die Kumpel zu Polens bestbezahlten Arbeitskräften, heute sind ihre Löhne nur noch durchschnittlich. Spezialläden mit defizitären Gütern gibt es nicht mehr, weil die defizitären Güter heute an jeder Straßenecke zu haben sind – allerdings zu Preisen, die für Bergleute längst unerschwinglich geworden sind. Selbst die Kohle, die sie aus dem Betrieb mitnehmen dürfen, wird ihnen auf den Lohn angerechnet. Noch heißt es, die Kumpel sollen zu Weihnachten ihr übliches vierzehntes Monatsgehalt bekommen. „Und außerdem habe ich mir das Vierzehnte schon von meinen Verwandten vorstrecken lassen müssen“, klagt ein Kumpel, der gerade für einen vollen Wochenlohn ein neues Kinderbett gekauft hat, „dabei weiß ich noch nicht einmal, ob mir das Vierzehnte überhaupt ausbezahlt wird.“ Manche Gruben zahlen ihren Beschäftigten inzwischen nämlich nur noch Anzahlungen auf den eigentlichen Lohn.

Im Sommer, als nur einige Gruben streikten, handelten die Kumpel eine Einmalzahlung von einer Million pro Arbeiter aus, damals umgerechnet 130 Mark. Sie bedachten nicht, daß jede Überschreitung der staatlich genehmigten Lohnanpassung an die Inflation mit 500 Prozent Strafsteuern belegt wird. Für jede Million, die die Grube auszahlte, mußte sie daher 5 Millionen an den Fiskus abliefern. Jetzt geht ihr deshalb die Luft für die normalen Lohnzahlungen aus.

Maciej Muzyczuk, Sprecher der Kattowitzer Solidarność der Grubenarbeiter: „Die Regierung hat im November per Verordnung und ohne uns zu konsultieren festgelegt, daß die Anpassung der Löhne an die Inflation in den ersten drei Monaten des kommenden Jahres nur ein Prozent pro Monat betragen darf. Dagegen sollen ab 1. Januar die Energiepreise um 10 und im Laufe des Jahres um 80 Prozent, die staatlichen Mieten sogar um 130 Prozent steigen.“ Die angekündigte Neuordnung der Gruben beschränke sich auf juristische Kniffe ohne soziale Absicherung der Beschäftigten: „Siebzig Prozent der Mittel für die Umstrukturierung sollen aus den Betrieben selbst kommen, das ist völlig unrealistisch.“ Ähnlich sei es mit der vor wenigen Tagen erst angekündigten Reform der Hüttenindustrie, deren Beschäftigtenzahl halbiert werden soll. Muzyczuk: „Wir erwarten, daß sich die Hüttenarbeiter bis Sonntag unserem Ausstand anschließen.“ Spätestens dann steht die Regierung Suchocka in Warschau unter starkem Druck.

Dreißig Kilometer weiter, in der Kleinstadt Tarnowskie Gory, ist von der Aufgeregtheit, die in Kattowitz und Warschau herrscht, nicht das geringste mehr zu spüren. Nebel liegt über dem örtlichen Bahnhof, eine Lautsprecherstimme verkündet den leeren Bahnsteigen die Einfahrt eines Regionalzuges. Einige gelbe Lampen werfen bizarre Schatten auf die leeren Gleise. Schwer zu glauben, daß dies Europas größter Eisenbahnknotenpunkt sein soll. Doch hinter dem Nebelschleier erstrecken sich hundert Kilometer Eisenbahnnetz, Abstellgleise, Rangierweichen, Ablaufhügel, Prellböcke. Seit letzten Donnerstag, 15 Uhr, ist hier Ruhe eingekehrt. Romuald Wilk, stellvertretender Vorsitzender der Eisenbahner-Solidarność: „Durch den Streik der Grubenarbeiter ist die Güterbeförderung auf ein Drittel des normalen Volumens gefallen. Unsere Leute hätten auch so kaum etwas zu tun, also haben wir beschlossen, uns anzuschließen, zumal die Stimmung ohnehin auf Streik stand.“ Wilk vermutet, daß sich der Eisenbahnerstreik für das Land bald als drastischer als der Grubenausstand erweisen könnte: „Einige große Koksereien und Hüttenbetriebe Polens könnten bald ohne Kohle dastehen. Und einen Hüttenofen, der ausgeht, kann man nicht einfach wieder anlassen.“ Nicht ausgeschlossen, daß rechtzeitig zu Weihnachten den Tankstellen dann der Treibstoff ausgeht – die Zisternen laufen ebenfalls über Schlesien. Den Knoten Tarnowskie Gory könne man umfahren, erklären die Streikenden in der Solidarność-Zentrale der Stadt, aber nur mit begrenzten Kapazitäten. Und über Tarnowskie Gory läuft ein Großteil der Versorgung Danzigs und Pommerns. „Einzelne Züge fahren zu lassen ist kompliziert. Wir müssen dann jede Station auf der Strecke vorher anrufen, damit die ihn durchlassen“, erklärt ein Streikposten. So verfahre man mit gefährlichen Ladungen und Lebensmittellieferungen. Selbst den Streik wieder abzublasen sei nicht so einfach: „Es dauert Stunden, bis das koordiniert ist und die Loks wieder aus den Schuppen und die Züge zusammenrangiert sind.“ „Die Streikleitung hat's uns untersagt, aber wenn bis Mitternacht nichts geschieht, müssen wir aufhören“, quält sich Wilk in der Kattowitzer Streikzentrale. „Das Chaos, das dann entsteht, will ich nicht auf dem Gewissen haben.“

Bis zum Wochenende reagierte die Regierung in Warschau auf das Verhandlungsangebot der Gewerkschaften nicht, sieht man von der mit drohendem Unterton versehenen Feststellung ab, der Eisenbahnerstreik sei illegal. Jetzt wird immerhin verhandelt. Über Radio kommt derweil die Meldung, auch die letzten beiden Gruben hätten sich dem Ausstand angeschlossen. Die Solidarność der Hüttenarbeiter tritt unterdessen dem überbetrieblichen Streikkomitee bei, bei laufender Urabstimmung. Aus dem zweistündigen Warnstreik am Montag ist längst ein unbefristeter Streik geworden– den Solidarność-Komitees haben sich inzwischen alle anderen Gewerkschaften angeschlossen.

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