Damals war Bremen noch Vorbild

■ Sozialamtsleiter Hans Leppin nach anderthalb Jahrzehnten bremischer Sozialpolitik: Aufgabenkritik darf nicht von oben kommen

Nach 15 Jahren und neun Monaten in der bremischen Sozialbehörde verläßt Hans Leppin die Hansestadt, um in Flensburg Stadtrat zu werden. Leppin war zuletzt Leiter des Amtes für Soziale Dienste im Bereich Mitte/West, war Sprecher des Jugendamtes und für die Schwerpunkte Wirtschaftliche Hilfen, Drogen-und Wohnungshilfe zuständig. Seine Nachfolge ist noch nicht geklärt. Im Gespräch mit der taz resümiert er 15 Jahre Sozialpolitik in Bremen.

taz: In 16 Jahren hat sich bestimmt einiges getan. Ist es denn besser geworden?

Hans Leppin: Es hat sich vieles verändert. Die Probleme sind anders geworden, das Interesse an Jugend- und Sozialpolitik hat nachgelassen. Wir haben eine gesellschaftlich schwerere Zeit als damals. Als ich nach Bremen kam oder mich für Bremen entschied, hatte Bremen den Ruf, das fortschrittlichste Land in der Sozialarbeit zu sein, des Landes, das liberal war, experimentierfreudig, das viel in der Sozialarbeit aufgebaut hatte, von dem andere Bundesländer und Städte nur träumen konnten. Man schaute voller Hochachtung auf Bremen.

Was war es denn zum Beispiel, wovon Sozialarbeiter träumten?

Das ausgebaute Netz der Erziehungsberatungsstellen, die relativ hohe Dichte an Jugendfreizeitheimen, die damals gute Ausstattung mit Kindertagesheimplätzen, die Pädagogik, die hier betrieben wurde, die besondere Arbeit mit Behinderten, auch daß die politische Bildung bei den Jugendlichen sehr stark angestrebt wurde — das war ein im Grunde sehr offenes Klima.

In welcher Funktion kamen Sie her?

Ich kam, um die damals sehr kontrovers arbeitenden Abteilungen Jugendförderung zu übernehmen. Sie kennen vielleicht das Buch „Konflikt im Jugendhaus“ von Christian Marzahn, diese Auseinandersetzung um eine Fortbildung, die eine Politisierungsdiskussion in der Jugendförderung nach sich zog. Das war gerade abgeschlossen, und nun ging es darum, einen Prozeß zu organisieren, der alle, die dort arbeiteten, auf eine Zielrichtung orientieren konnte.

Wie steht es heute mit der Vorreiterrolle Bremens?

Bremen hat unter der finanziellen Knappheit wahnsinnig zu leiden. Die Reformen haben viel Geld gekostet, anderes auch. Die Steuerreform hat das ihre getan. Das Abwandern von leistungsstarken Betrieben, der ganze Zusammenbruch des Werftenbereichs, hat tiefe Einschnitte in die Sozialstruktur, aber auch in die Einkommenssituation dieser Stadt gebracht. Man darf aber auch nicht übersehen, daß die Städte wahnsinnig viel Lasten haben übernehmen müssen, die früher andere Stellen wie der Bund getragen haben — die Sanierung der Arbeitslosenversicherung, jetzt das Drama mit den ABM — das heißt doch, daß die Kommunen mit ihrer Sozialhilfe als Ausfallbürge immer stärker in die Taschen greifen müssen, obwohl die Einnahmen sinken.

Mit den neuesten Streichungsvorschlägen der Bundesregierung wird sich die Situation weiter verschärfen.

Die sind sehr ernst zu nehmen. Ich kann nur davor warnen, in dieser Art vorzugehen, weil damit der soziale Friede erheblich gestört werden wird. Ich kann mir nicht vorstellen, daß tatsächlich gewollt ist, daß in einzelnen Kommunen amerikanische Verhältnisse eintreten. Das ist eine Beförderung der Zweidrittel- Gesellschaft auf massivste Art.

Gibt es aus Ihrer Sicht noch Auswege?

Tja, Bund, Länder und Gemeinden werden sich neu unterhalten müssen — über die Verteilung der Steueraufkommen und die Finanzierung der Aufgaben, die notwendig sind, um in dieser Gesellschaft ein zukunftsorientiertes Leben zu ermöglichen. Es müssen dann in den Kommunen auch aufgabenkritische Veränderungen vorgenommen werden. Nur hoffe ich, daß das nicht so passiert wie in der letzten Zeit in Bremen, daß da eine kleine Arbeitsgruppe von fünf, sechs hohen Beamten ohne Beteiligung der Betroffenen, ohne deren Anhörung, ohne Anschauung der konkreten Maßnahmen sogenannte Vorschläge für ein sogenanntes Personalentwicklungsprogramm auf den Tisch legen und in den Senat geben, und es dann den Ressorts überlassen, wie sie damit fertig werden. Das verdient den Namen einer echten Aufgabenkritik nicht. Aufgabenkritik in meinem Sinne sind Gespräche auch mit den Betroffenen und mit der Öffentlichkeit, aber nicht zuletzt auch mit den Leuten, die diese Dienstleistungen durchführen. Aufgabenkritik, die von oben nach unten geht, wird nicht akzeptiert und führt zu erheblichen Reibungsverlusten und Entmotivation. Sie greift nicht, weil sie nicht mitgetragen wird.

Das klingt, als ob man in Ihrem Aufgabenbereich falsch angesetzt hat?

Das würde ich nach zehn Jahren Sparpolitik in Bremen nicht sagen. Aber mit den massiven Beiträgen, die unser Bereich in diesen zehn Jahren geleistet hat, ist im Sozial-und im Jugendbereich in Bremen die Luft raus.

Man wird in Zukunft sicher nicht mehr die gesamte Breite des Angebots, beispielsweise der Jugendhilfe, aufrechterhalten können: Alles nur eine Nummer kleiner würde bedeuten, daß man alles macht, aber nichts mehr richtig. Man muß also schon Kernbereiche und Prioritäten festlegen; und das ist ein inhaltlicher aufgabenkritischer Prozeß, und das geht nicht nach der Maßgabe, wir schreiben mal die Hälfte der jugendlichen Stellen rein in so ein PEP des ambulanten Dienstes Jugendliche, vor dem Hintergrund Rostock, Mölln und anderer Entwicklungen und sagt, das ist es erst einmal. Und wenn ihr mit einem anderen Argument kommt, und wir es für gut befinden, dann können wir mal überlegen, ob wir es rausnehmen. Das ist nicht die Aufgabenkritik.

Man muß vielmehr gucken: Womit haben Jugendliche heute zu tun, welche Maßnahmen greifen zentral, und dann erst kann ich sagen, wenn ich das mache, dann kann ich vielleicht an der oder der Stelle etwas einschränken. Aber die Gesamtschau, diese Frage, wie kann ich Lebensbedingungen von jungen Menschen, vom Kleinkind bis zum Großen, so stabilisieren und mit welchen Maßnahmen muß ich als Staat sie flankieren und was kann ich zurückstellen, diese Frage wird so nie gestellt. Stattdessen wird an irgendeinem Städtevergleich operiert. Und wenn dieser Prozeß so weitergeht, dann ist am Ende nichts mehr gewesen. Und dann steht man vor den Jugendlichen und fragt, wie kriege ich sie wieder an die staatlichen Organe oder überhaupt an diesen Staat, daß sie sich mit dieser Gesellschaft identifizieren. Die spielen im gegenwärtigen Prozeß der Aufgabenkritik aber gar keine Rolle.

Von außen hat man leicht den Eindruck, als ob für gesellschaftliche Aufgaben keine Utopien mehr entwickelt werden. Gibt es bei den Leuten der Praxis noch versteckte Ideen- Schmieden? Oder ist man so sehr mit Krisenmanagement beschäftigt, daß man gar nicht mehr zum Nachdenken kommt?

Wenn Sie mich persönlich nehmen, ich bin in den vergangenen zwei Jahren stark mit Krisenmanagement beschäftigt gewesen.

Das liegt aber auch am Zuschnitt meiner Stelle: Als Abteilungsleiter für den Bremer Westen Mitte/West. Dazu gehört die gesamte städtische Wohnungshilfe, die gesamtstädtische Durchführungsebene der Drogenhilfe, das war schon in hohem Maße Krisenmanagement. Dann bin ich Sprecher der Amtsleitung und Leiter der Verwaltung des Jugendamtes. Auch da war eher sicherzustellen, was durch das Loch zu fallen drohte, aufzugreifen und zu einer Lösung zu bringen.

Trotzdem hat es eine Reihe von utopischen Vorstellungen gegeben. Immerhin sind in dieser Zeit entstanden: die Integration Behinderter in Kindertagesheimen, das Regionalisierungskonzept der Drogenarbeit, der Drogenhilfeplan, es gibt also einige Bereiche, in denen auch heute noch eine Menge getan wird. Es ist immerhin die Neuorganisation der Sozialen Dienste entstanden, trotz Sparpolitik. Wobei ich keiner Stadt raten würde, unter solchen Rahmenbedingungen eine Neuorganisation zu machen. Weil die allein schon eine hohe Umstellungsbereitschaft von einzelnen Fachkräften erfordert.

Wenn dann auch noch eine massive Sparpolitik einsetzt, wie dies Anfang der 80er zeitgleich der Fall war, dann wird das zum Balanceakt: Dann hat man auf der einen Seite eine Organisationsreform, die hochgradig auf Innovation von unten nach oben angelegt ist und die hochmotivierte, sozial engagierte Fachkräfte erfordert, und gleichzeitig hat man eine Wirklichkeit, eine Organisationsstruktur, die zwangsläufig (bei den Personalmengen, die man nur noch verteilen konnte) fragmentarisch bleibt. Insofern hat man einen riesigen Anspruch - der richtig ist und den ich heute noch teile. Aber die Organisationsstruktur trägt diese Idee nicht: Es fehlen die Bindeglieder an den Ecken. Insofern bleibt die Neuorganisation holzschnittartig und fragmentarisch. Trotzdem halte ich die Neuorganisation — ihrem Anspruch nach — für eines der gelungensten Organisationsmodelle und Versuche, Industriemanagement auf Sozialarbeit zu übertragen. Das Sozialressort wäre längst kleiner gespart, wäre dies nicht von Henning Scherf damals angeschoben worden. Es war ein Versuch, inhaltlich so zu sparen, daß dabei für den Bürger etwas herauskommt.

Indem einzelnen MitarbeiterInnen die Verantwortung für eine kleine Region übertragen wurde?

Noch weiter: indem die Verantwortung fachspezifisch, in kleinen Strängchen, aufgelöst wurden zugunsten einer größeren kooperativen Einheit, die dann flexibel versuchen kann, auf Probleme einzugehen. Allerdings: Wenn es mit dem Personal eng wird, kann sie auch leichter Dinge wegdefinieren. Die gesamte Einheit ist durchaus so strukturiert, flexibler zu reagieren. Die früheren Kommunikationsprobleme, wenn ein Sozialarbeiter mit dem Sozialamt Ärger hatte, gingen nach oben zum Sozialamtsleiter. Das wird heute auf der untersten Ebene, von Fachkraft zu Fachkraft geklärt, von denen, die mit dem Einzelfall auch zu tun haben. Ich habe in meiner NOSD-Zeit nur wenige Konflikte zwischen Sozialdienst und wirtschaftlichen Hilfen zur Schlichtung vorgelegt bekommen.

Hat es wirklich geklappt oder sind die Konflikte nur nicht zu Ihnen vorgedrungen?

Das System des gemeinsamen Klärens hat auf der sachbearbeitenden Ebene wirklich gut geklappt. Die Kommunikation und Kooperation hat nur dann nicht funktioniert, wenn die wirtschaftliche Hilfe außer Tritt geriet, wenn wegen der mangelnden Geschwindigkeit der Neueinstellungen Personal fehlte.

Sehr gut klappen Zusammenarbeit, Planen und Unterbringen z.B. bei Behinderten: Wenn sich die einzelfallbezogene Fachkraft, die Kraft aus der Einrichtung und auch vom Freien Träger, sowie der Gutachter, der das Kind kennt, zusammensetzen und gemeinsam beraten, was für dieses Kind am besten ist, wie muß die Hilfe organisiert werden. Daß es da Grenzen gibt, weil wir nicht soviel Geld haben, ist eine andere Sache.

Wie ist es denn mit der Zusammenarbeit von Politik und Verwaltung? Im Verwaltungsapparat sind Probleme bekannt, auf die Politik reagieren müßte.

Das ist im Rahmen der Neuorganisation, besonders nach dem zweiten Teil, eindeutig geklärt: Es gibt Zielgruppenkonferenzen, da treffen sich die Sachgebietsleiter eines Fachgebietes, also z.B. für Kinder und deren Familien, zusammen mit ihren Referenten und beraten die Dinge fachlich. Daran nimmt auch die Amtsleitung teil und dort werden Grundsatzprobleme diskutiert. Dort sollten auch die Senatsvorlagen oder Vorlagen für die Deputationen in der Zielrichtung ausformuliert werden, die dann umgesetzt werden. Vom System her klappt das im wesentlichen. In einer Zeit knapper Kassen, wo der fachlichen Notwendigkeit fiskalisch nicht immer gefolgt werden kann, gibt es in den Senat hinein Veränderungen, denn die wenigsten Vorlagen gehen ja unzensiert in den Senat. Da machen die Spiegelressorts SKP und Finanzen schon ihre Abstriche. Insofern kommt nicht alles so in den Senat, wie sich die Fachkraft das vor Ort vorstellt. So kommt vielleicht auch ein Entschluß zustande, der nicht den Interessen entspricht, das führt wiederum zu Problemen in der Umsetzung wie jetzt mit dem Beschluß zur Kindertagesheimbetreuung.

Sie haben zehn Jahre NOSD miterlebt, haben sie mit auf den Weg gebracht. Was ist der entscheidende Vorteil der Neuorganisation gewesen, für Bremen und für die Betroffenen?

Der entscheidende Vorteil ist die Organisation nach Zielgruppen. Daß ein Dienst nicht für irgendein Einzelproblemsymptom oder für irgendeine Gesetzessystematik geschaffen worden ist, sondern daß man eine Familie mit einer bestimmten Lebensphase eines Kindes, oder einen Menschen mit einer bestimmten Lebensphase genommen hat und fordert, daß ein solcher Dienst alle Probleme lösen kann, die da reingehören. Das ist für den Bürger und auch für die Dienste einfacher, da kommt etwas bei raus. Ein anderer Vorteil ist, daß wir in bestimmten Bereichen auch ortsteilnah arbeiten können. Von den Verbesserungen auf der Ebene der Sachbearbeitung habe ich schon gesprochen: Die Entscheidungen also nicht an eine Stelle verlagern zu müssen, die den Klienten und den hilfebedürftigen Menschen gar nicht kennt. Auch die Vernetzung mit den Ortsämtern ist sehr gut. Wobei dieses Regionalprinzip in nächster Zeit noch gestärkt werden muß, ein paar Stunden Stadtteilkoordinator reichen da nicht aus. Wir müssen noch ein Stückchen mehr in Richtung Ombudsmann oder —frau kommen.

Was würden Sie anderen Städten bei einer solchen Neuorganisation also empfehlen?

Wenn man schon einen Probenlauf macht, darf man die Wissenschaft nicht nach dem Probelauf abziehen, sondern muß auch die Übertragung auf die Gesamtheit wissenschaftlich begleiten. Das ist hier nicht gelaufen. Die Folgebezirke mußten dann ohne kritische Betrachtung und Begleitung von außen die NOSD durchführen. Und da sind sicher eine Menge Fehler gemacht worden, die hätten vermieden werden können. Insofern war es oft mühsam, weil einfach die Unterstützung fehlte.

Wollen andere Städte dem Bremer Beispiel folgen?

Reformideen und Umstrukturierung des öffentlichen Dienstes sind breit in der Diskussion. Ein Modell, wie Bremen es hat, diese flächendeckende Umsetzung, gibt es aber nirgends. Sie eignet sich auch nur für Großstädte.

Sämtliche alteingesessenen Branchen hier in Bremen kriseln. Armut und Obdachlosigkeit werden zunehmen. Wie beurteilen Sie die Lage?

Ich will keine Untergangsstimmung zeichnen. Dann könnte ich nicht in diesem Beruf bleiben. Es haben sich auch immer neue Entwicklungen aufgetan. Es ist die Frage, ob man sich Mut macht, nach neuen Entwicklungen zu schauen, oder ob man depressiv ist. Man braucht Ziele, auf die man hinstrebt, sonst erreicht man nichts. Ich kann Bremen nur das sagen, was ich im Rathaus bei meiner Verabschiedung gesagt habe: Bremen hat eine unheimlich liberale Tradition. Ich würde den Bremern wünschen, daß sie sich zu dieser liberalen, weltoffenen Tradition bekennen und entsprechend handeln. Das steht Bremen gut an. Für dieses Ziel lohnt es sich zu kämpfen. Interview: Birgitt Rambalski