Das Radio, die Nabelschnur zur Welt

Die von Israel deportierten Palästinenser versuchen, das Leben im Zeltlager zu organisieren/ Der Mangel an Lebensmitteln und Medikamenten ist das größte Problem  ■ Aus dem Niemandsland Khalil Abied

Der poetische Namen des Fleckens will nicht so recht zur Wirklichkeit passen: Mardsch al Sohur, zu deutsch „Blütenwiese“, bezeichnet ein gebirgiges, kahles und trostloses Gebiet, in dem es kaum Leben gibt. Hier, eingekeilt im Niemandsland zwischen den Posten der israelischen und libanesischen Armee, steht das Zeltlager der 415 von Israel deportierten Palästinenser aus der Westbank und dem Gaza-Streifen.

Vor einem kleinen Felsen hocken bedrückt drei junge Männer, Mahmud, Yousef und Aymen Al- Khalil. Ihre Familie lebt im Gaza- Streifen, im Flüchtlingslager Al Shageya. Wie die meisten dort verdient sie ihren Lebensunterhalt bei den Besatzern in Israel. „Was wird mit unserer Familie geschehen?“ fragt Mahmud, der Älteste der drei. „Früher, wenn einer von uns im Gefängnis war, konnten die anderen Brüder die Familie – meine Eltern, meine drei Schwestern, meine Frau und meine zwei Kinder – über Wasser halten. Wovon werden sie jetzt leben?“

Mahmud und seine Brüder waren zwei Tage vor der Deportation um elf Uhr nachts festgenommen und in das Gefangenenlager Ansar3 in der Negev-Wüste gebracht worden. „Dort haben sie uns gezwungen, sechs Stunden unter freiem Himmel auf unseren Knien zu sitzen. Es war sehr kalt und hat die ganze Zeit geregnet. Die Soldaten haben uns immer wieder geschlagen, mit den Gewehrkolben, mit ihren Fäusten und Füßen.“

Schließlich wurden die Gefangenen in Busse verfrachtet, mit verbundenen Augen und hinter dem Rücken gefesselten Händen. „36 Stunden lang bekamen wir nichts zu trinken und zu essen. Wir durften noch nicht einmal unsere Notdurft verrichten. Wenn jemand einschlief, wurde er geschlagen“, berichtet Mahmud weiter. Schließlich wurden die Gefangenen aufgefordert auszusteigen. „Wir waren total erschöpft. Ich hatte Muskelverspannungen und Schmerzen am ganzen Körper. Die Spuren der Fesseln kann man noch sehen“, fährt Mahmud fort und zeigt seine Handgelenke: entzündete Wunden, rohes Fleisch. „Als wir die Busse verließen, stellten wir fest, daß wir im Südlibanon waren. Da wußten wir: Wir sind entwurzelt. Die körperlichen Schmerzen waren nichts im Vergleich zum Abschiedsschmerz.“ –

Selbstorganisation

„Der wichtigste Schritt war, den ersten Schock zu überwinden und uns zu organisieren“, sagt Nabil, ein dreißigjähriger Journalist aus Ramallah in der Westbank. Neben der Ratsversammlung, der Vertretung der Deportierten, wurden mehrere Komitees eingerichtet, die sich um Verpflegung, medizinische Versorgung, religiöse und kulturelle Belange kümmern.

Fünf Jahre lang hatte die israelische Besatzungsmacht über die Aktivitäten der radikalen Hamas- Bewegung, der die Deportierten angehören, mehr oder weniger hinweggesehen, um die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) zu schwächen. In den beiden letzten Monaten kam es sogar zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern beider Strömungen. Die Tatsache, daß im Nahost-Friedensprozeß auch nach einem Jahr keine Fortschritte zu sehen sind, hat unter den Palästinensern Enttäuschung und Verzweiflung hervorgerufen. „Niemand kümmert sich um uns. Der Westen hat schnell reagiert, als es um seine Ölinteressen am Golf ging. Außer Gott haben wir niemanden, auf den wir uns stützen können“, hört man immer wieder bei Gesprächen im Lager.

Nachdem die Deportierten am Montag und Dienstag vergeblich versucht hatten, in den israelisch besetzten Teil des Südlibanon zu gelangen, und schließlich in das Lager zurückkehren mußten, sind sie nun dabei, ihren Alltag zu organisieren. Die schwierigste Frage ist, wie es jetzt weitergehen wird, nachdem das Oberste Gericht Israels am Dienstag abend den Einspruch gegen die Deportation abgewiesen hat. Aziz Rantisi, Leiter der Islamischen Universität in Gaza und Sprecher der Ratsversammlung, will sich zum weiteren Vorgehen nicht äußern: „Ich kann nur sagen, wir werden es niemals akzeptieren, hierzubleiben und langsam zu sterben.“

Kulturelle Aktivitäten

Der Mangel an Nahrungsmitteln und Medikamenten ist zu einem Alptraum für die Palästinenser geworden. Obwohl die libanesische Armee den Deportierten erlaubt hat, in das Lager zurückzukehren, läßt sie keine Hilfskonvois mehr durch. Die Vorräte schwinden.

An qualifizierten Personen fehlt es den Gestrandeten sicher nicht. „Unter uns gibt es 18 Universitätsprofessoren, 7 Journalisten, 108 islamische Gelehrte und Prediger, 7 Ärzte ... Dazu kommen viele Lehrer und Krankenpfleger“, sagt Rantisi und folgert: „Die israelische Regierung zielt mit diesem Schritt (der Deportation, d.Red.) darauf ab, die Infrastruktur und die Institutionen der palästinensischen Gesellschaft zu zerstören.“

Die wertvollsten Besitztümer im Lager sind die wenigen Radiogeräte. Die Radios sind die Nabelschnur zur Außenwelt. Wenn es Nachrichten gibt, scharen sich die Palästinenser in kleinen Gruppen um die Geräte, um die letzte Entwicklung zu verfolgen.

Um die öden Tage etwas abwechslungsreicher zu gestalten, organisieren die Komitees verschiedene Aktivitäten. Neben Gebeten und Koranlesungen sticht vor allem das Kulturkomitee durch seine Tätigkeit hervor. Jeden Tag gibt es mindestens eine Vorlesung. Auch wenn die Themen unterschiedlich sind, endet die anschließende Diskussion immer mit einer Debatte über den Friedensprozeß.

„Was Rabin (der israelische Ministerpräsident, d.Red.) mit uns gemacht hat, ist ein Beweis, daß die Juden keinen Frieden wollen“, sagt einer der Professoren. „Es bestätigt unseren Standpunkt als Islamisten. Der Friedensprozeß muß gestoppt werden, die palästinensische Delegation darf sich nicht mehr an den Gesprächen beteiligen.“ Eine hier weit verbreitete Auffassung.

Doch was wird, wenn die PLO weiter an den Verhandlungen in Washington teilnimmt? „Vielleicht können wir in unserer Lage nichts machen, aber unsere Leute in den besetzten Gebieten können viel tun“, meint Lager-Chef Rantisi. „Wenn sich die PLO weiter an den Verhandlungen beteiligt, wird sie ihre Glaubwürigkeit verlieren.“