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"Großoffensive" oder Ruhe vor dem Sturm

■ In Bosnien soll nach Angaben des restjugoslawischen Präsidenten Cosic eine muslimische Großoffensive begonnen haben / Britischer Außenminister Hurd hält Militärintervention für möglich

Sarajevo (AP/AFP/taz) — Für viele EinwohnerInnen Sarajevos ist sie seit Wochen die letzte Hoffnung: die „Großoffensive“, die die bosnischen Truppen in der Nacht zum Mittwoch mit einem Angriff auf den von Serben gehaltenen Vorort Ilidza eingeleitet haben sollen.

„Sollen“, denn der von dem restjugoslawischen Präsidenten Dobrica Ćosić in einem Brief an UN-Generalsekretär Butros Butros Ghali scharf verurteilte Angriff, fand nach Angaben der in Sarajevo stationierten UN-Blauhelme gar nicht statt. In der umkämpften Hauptstadt sei es, so wurde gemeldet, „eher ruhig“. In UN-Kreisen war man bisher davon ausgegangen, daß die Offensive am 2. Januar beginnen sollte.

In seinem Brief forderte Ćosić die Vereinten Nationen zur sofortigen Beendigung des Krieges auf: „Sollte ihre Intervention in den nächsten Stunden fruchtlos sein, können wir keine Verantwortung für die unvermeidbaren Konsequenzen übernehmen.“ Dem Schreiben des Präsidenten war eine Sitzung des Obersten Verteidigungsrates Jugoslawiens vorausgegangen.

Ćosić zufolge standen die Wohngebiete der Serben am Dienstag unter schwerem Artilleriebeschuß, Truppenbewegungen würden ferner auch in den muslimisch kontrollierten Vierteln Sarajevos beobachtet. Die Truppen bereiteten insbesondere „schwere Angriffe“ gegen Gradacac im Norden sowie Foca, Bratunac und Zvornik im Osten vor.

Die Offensive der Muslime habe bereits 10.000 Serben, vornehmlich Frauen, Kinder und alte Menschen, zu Flüchtlingen gemacht. Das sei eine „bedauerliche“ Bestätigung der Tatsache, daß die „moslemischen Behörden versuchen, ihre Ziele mit Waffengewalt zu erreichen“, schrieb Ćosić in seinem Brief an Ghali.

Doch auch mit ihm wird er den Generalsekretär kaum „umstimmen“ können. Dieser hatte nach seinen Gesprächen mit den führenden Politikern der Kriegsparteien, die er in dieser Woche in Genf führte, noch einmal deutlich gemacht, daß einer friedlichen Lösung des Konflikts eine „letzte Chance“ gegeben werden müsse. Am kommenden Samstag soll es in Genf zu einem ersten direkten Zusammentreffen der Kriegsgegner kommen.

Im Gegensatz zu der Position Ghalis hat inzwischen auch der britische Außenminister Douglas Hurd einen Kurswechsel in der Jugoslawienpolitik seines Landes erkennen lassen. Nachdem die Londoner Regierung sich bisher stets gegen ein militärisches Eingreifen des Westens im Bosnienkrieg ausgesprochen hatte, stellte Hurd in einem Beitrag für die Mittwochausgabe der Londoner Daily Telegraph nun fest, daß die andauernde serbische Aggression in Bosnien und die wachsende Gefahr einer Ausweitung des Krieges selbst jene an eine Militärintervention denken ließe, die diese bislang ablehnten.

Der gestürzte Ministerpräsident Restjugoslawiens, Milan Panić, hat am Mittwoch seinen Rücktritt verweigert. Vor Journalisten in Belgrad erklärte er, gemäß der Verfassung werde er im Amt bleiben, bis der jugoslawische Präsident seinen Nachfolger ernannt habe. Die Entscheidung des Parlaments vom Dienstag abend, den Montenegriner Radoje Kontic zum Übergangsministerpräsidenten zu bestimmen, sei verfassungswidrig.

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