: Die Probe auf die Wirklichkeit
„Die Pest“ an der Volksbühne: das Theaterexperiment des Jahres, das scheitern mußte ■ Von Berthold Rünger
In dieser Spielzeit mußte die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz als erste in den Ring steigen und sich exponieren, hatte der Senat den Neubeginn doch mit der Aufgabe etikettiert, Theater für eine bewegte, junge Generation zu machen. Aber nicht nur die ist dort zu sehen. Auch das Berliner Ensemble steckt in den Vorbereitungen zum offenen Neuanfang im frühen Januar mit fünf bewährten Theatermachern. Es geht auf zur Schatzinsel der neuen Emotionalitäten, Mentalitäten und Reflexionen in einer Bundesrepublik, die irgendwohin rutscht.
Entschlossen nutzt die Volksbühne die Chance. Ein Werbefeldzug mit Räuber-Symbolen auf Streichholzschachteln, Aufklebern, Buttons, Kinowerbung, Reklame- und Häuserwänden (einschließlich des eigenen Baus) fingiert die Möglichkeit einer natürlich-anarchischen Freiheit. Dem Gebaren wächst womöglich ein Lebensgefühl, gar eine Lebenspraxis nach.
Mit bloß „ästhetischen Explosionen“ rechnet Peter Zadek im östlichen Theater-Dreieck der Volksbühne, des Berliner Ensembles und des Deutschen Theaters. Eine Erneuerung der Staatlichen Bühnen mit Schloßparktheater und der Schaubühne, dem westlichen Theater-Dreieck, ist freilich auch nicht auszuschließen. Der Weg ist lang, die Anlaufproduktionen der Volksbühne konnten nur Experimente sein. „Etikettenschwindel“ nennt Intendant Castorf selbst das Zerreißen und Zusammensetzen von Bühnenklassikern zu quasi-modernen Stücken, offenbar einen Motiv- und Traditionsreichtum nutzend, den neue Stücke für ihn nicht haben. Statt von Scheitern, wird man künftig von Irrtümern und Irrwegen sprechen müssen.
Auf dem Theater jetzt auch die echte Realität
Mit diesem Gewaltmarsch hatte die jüngste Produktion am Hause, „Die Pest“, inszeniert vom Briten Jeremy Weller, jedoch nichts zu tun. Eine freie Theaterarbeit, von Siemens mitfinanziert. Aber man rechnet ihn sich zu, um „als Staatstheater die Berührung mit sozialer Wirklichkeit zu suchen“. So vespricht es das Programmheft. Keine einprägsam-blendenden Effekte, keine Versuche einer Gegenwartsbestimmung mit forcierter Expression, dafür durchgehend Schlichtes, Naives bis zur Schaustellerei. Das Publikum reagierte mit Jahrmarktheiterkeit ohne Langweile.
Das Unternehmen, mit Obdachlosen, Schauspielern und Theaterpersonal ein Stück zur Deutschen Einheit nach Albert Camus' Roman „Die Pest“ zu entwickeln, ist dennoch mißlungen. In den letzten Tagen der ersten Aufführungsserie (Anfang Dezember), wenn nach der Verhängung der Quarantäne der Bühnenraum ins Dunkel abtaucht, ist eine fröhliche Klientel da, die ein Happening verfolgt. Wie bei einem Konzert wurden die Feuerzeuge entzündet. Gelegentlich allerdings rebellierten die Obdachlosen gegen die gute Laune im Saal. Denn geblieben sind vom schönen Plan Probenszenen, die den Schiffbruch dokumentieren – und eine Theaterinitiative der sieben Obdachlosen, die sich in einem Raum in der Mulackstraße trifft. Die Volksbühne hilft mit. Die Erfahrung, daß alternatives Theater zu wenig Reserven hat, um die angehäufte Kunstfertigkeit der Staatstheater herauszufordern, macht sie damit zum ersten Mal.
Verhaltensforschung an lebenden Opfern
Jeremy Weller ist ein Mann der großen Worte und Attitüden. „Indem ich verschiedene Teile der Gesellschaft zusammenbringe, erforsche ich die Unterschiede, die innerhalb der Gesellschaft existieren“, schreibt er. Wie ein positivistischer Wissenschaftler führte er experimentell sieben Obdachlose, Schauspieler und anderes Bühnenpersonal zusammen. Mit Videos und Befragungen wollte er sie kennenlernen: beides sind Methoden der Verhaltensforschung.
Daraus fertigte der Theatermacher Szenen untersteller Selbstdarstellung. Beispielsweise gleich zu Beginn: Ein Obdachloser, Axel der Star, kommt nach Berlin, begegnet Jürgen und Jumbo, die ihm den Koffer rauben. Stefan mit Beinamen Jesus tritt auf. „Was soll ich denn jetzt machen? Du mußt mir helfen.“ „Warum soll ich dir helfen, wenn dir die anderen auch nicht helfen?“ Der Skin Kojak eilt herein und raubt Jesus das Portemonnaie. Es folgt die Statistik aus der Zeitungsnotiz: „Alle fünf Minuten ein Überfall.“ Das Publikum lacht bequem. Authentisch ist sicher: „Scheiß Berlin.“ Axel legt sich enttäuscht neben eine Tonne schlafen, in der der Bühnenarbeiter Peter liegt. Hunni schlappt herein, der wie Django gekleidet ist und seinen Freund besuchen will. Als er den Peter wachrüttelt, stellt er fest, daß er „kalt wie ein Fischstäbchen“ ist. Der pfiffige Ausdruck überbrückt Hunnis Unfähigkeit, eine Geste vorzuführen. Er pfeift seine Kumpanen herbei. Sie entdecken ein Messer in Peters Bauch und den schlafenden Axel neben der Tonne. Hunni schneidet ihm die Gurgel durch. „Ich wasche mir die Füße in Unschuld“, kommentiert Jürgen.
Die Obdachlosen verloren die Lust am Volksbühnenprojekt. „Chris, du glaubst doch nicht, daß uns einer abnimmt, daß wir so sind?“ Chris ist Wellers Assistent und leibhaftig auf der Bühne, englischsprechend. Er erklärt, in der Szene seien „einige gute und einige schlechte Dinge“, und vieles könne sich noch ändern. Jürgen bleibt mürrisch, es lohnt sich, seine Selbstdarstellung im Programmheft nachzulesen: Immerhin will er in der Fremdenlegion Scharfschütze gewesen sein. So einer tötet anders. Wen wundert's, daß auch die anderen nichts hinzutun können, daß solche Szenen durch noch so viele Proben nichts gewinnen?
Offenbar auf der Jagd nach der neuen Theatersprache hatte man Weller zu unbesehen ins Haus genommen, schien er doch auf der Linie des gesellschaftlich engagierten Theaters zu liegen. Der Irrtum stellte sich erst während der Proben heraus. Daß das Inszenierungswrack dann doch aufgeführt wurde, dürfte an der Förderung durch die SiemensAG gelegen haben, an die andernfalls das Geld hätte zurückgezahlt werden müssen. Lediglich der persönliche Einsatz, den Zusammenbruch viele Tage vor meist gefülltem Saal zu wiederholen, beeindruckte bis zuletzt. An kleinen Gesten erkennbar, bildete sich so nun doch Vertrauen zwischen den Obdachlosen und Schauspielern heraus. Wohl auch die alte Brigade-Solidarität mit dem Schwächeren war noch einmal öffentlich zu sehen – eine zwischenmenschliche Wärme selbst in aggressiven Momenten, wie sie oft erfleht und selten erreicht wird.
Kann man das Weller zurechnen? Wohl schwerlich, denn sein Credo war die Selbstinszenierung des Einzelnen. Die Obdachlosen brachten eine Art Familiensinn mit, auf den sie stolz sind, ein Minimum an Sozialisationsfähigkeit aus dem Wissen um ihre Bedürftigkeit und Abhängigkeit. Die Wellerschen Erfindungen versuchten sie eifrig und linkisch wie Kinder zu befolgen. Hunni kommentiert: „Wenn wir etwas gemacht haben, wurden wir von Weller gestreichelt. Die Schauspieler hat der gedeckelt.“
Das wahre Leben gibt leider nicht viel her
Da lachte man im Saal zwanglos wie im Zirkus, doch in dem hölzernen Spiel schien noch nicht mal die Rächerromantik auf, die Weller hineingepreßt hat. Die Biographien der Obdachlosen – im Programmheft nachzulesen – sind von diffusen Motiven durchzogen. Ein Scheitern an mangelnder Kontrolle wie an negativen und positiven Lebensentwicklungen. Obwohl sie viel reden, geht ihre Auskunftsfähigkeit nicht über das normale Rationalisieren hinaus.
Da dies wahre Leben so unergiebig ist, wertet Weller es mit Blut und Gewalt nachträglich auf. Was also spielen? Was war entscheidend? Zu schwer für die Bretter des Theaters waren die Lebensläufe auf keinen Fall. Für die Extremsituationen von „Jürgens“ Biographie vielleicht müßte sich ein Autor vom Format Bernard- Marie Koltès finden. Weller kann weder entdecken noch schreiben. Statt dessen soll das Leben selbst spielen. Er stellt „Verlorene“ auf die Bühne, wo sie „das Recht haben zu sprechen. Auf der Straße hört man ihnen nicht zu.“ Sagt er. Hilft es ihnen, mit beliebigen Leuten zu reden oder sich vor ihnen darzustellen?
„Es ist nichts Theoretisches oder eine Projektion von mir, weil ich schlicht und einfach den Leuten Fragen stelle, und dann überzeuge ich sie, das auch anderen zu erzählen, indem sie auf meiner Bühne auftreten.“ Bei einer Publikumsdiskussion stellte Hunni klipp und klar und unwidersprochen fest: „Wir sind gescheitert. Was wir sagen wollen, kommt nicht rüber.“ Aber was sollte denn rüberkommen? Die Frage stellte niemand.
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Identität und Authentizität waren die Zentralbegriffe in den Diskussionen. Aber wer ist schon authentisch? Auf der Bühne sagen die Obdachlosen etwa: „Wir sind für euch (das Publikum) die Pest. Ihr grenzt uns aus.“ Oder: „Wir wollen auch Wohnungen.“ Sie machen diejenigen verantwortlich, die einen – besseren – Platz in der Gesellschaft haben.
In der Kantine unter der Bühne verstehen sich die Obdachlosen hingegen als lebenserfahrene Außenseiter. Sie haben eine Unzahl von Lebensweisheiten gelernt und haben viel Zeit, sie aphoristisch auszufeilen. Immer wieder probieren sie die Sprüche aneinander aus. Wie sie so ruhig um den Tisch sitzen, sind sie schüchtern – lebensschüchtern. Nach den Vorstellungen fanden es junge, genauso schüchterne Frauen aufregend, wenn so einer sie umfaßte und sagte, er sei Araber und für Vielweiberei. Hochmut der Bettler: sie möchten die Ehrlicheren sein, die Cowboys der Stadtwüste. „Obdachlos sind nicht wir. Wir sind wie eine Familie zueinander. Obdachlos ist die Gesellschaft mit ihrer menschlichen Kälte.“ So ungefähr.
Ideen ohne Inspiration
Weller forderte die Mitwirkenden der Volksbühne auf, Tagebücher zu schreiben und sie ihm zu geben. Zunehmend entzogen sie alle dieser Ausforschung und Wellers Regieideen. Die Schauspielerin Meral Yüzgülec sollte eine Prostituierte spielen, erkannte sich darin nicht wieder, Weller begann seine Befragung mit einem Notizblock in der Hand von vorn und fragte nach der „Identität in Deutschland“. Hatte er nichts verstanden? Er entschuldigte sich damit, er habe „im Moment zu viele Ideen“, um sich „auf Einzelheiten zu konzentrieren“. Aber eben diese vielen Ideen waren für Obdachlose wie auch Schauspieler ohne Imagination, klischeehaft und oft infantil. Einige Schauspieler ließen sich nur noch darauf ein, um die Unspielbarkeit der Vorschläge zu beweisen. Das Spiel mit der Authentizität wandte sich zunehmend aggressiver gegen den Regisseur. Im fragmentarisch immer noch präsenten Stück muß die Bühne für eine Quarantäne geschlossen werden. Die Schauspielerin Annett Kruschke zeigte in der Premiere einen Wutanfall, der sich körperlich gegen Chris richtete, ein Bravourstück, bei dem sie zu einem einzigen wirbelnden Knäuel aus scheinbar losgelösten Körperteilen wurde. Gespielt? Chris, der bloß gespielte Regisseur, ist furchtbar erschreckt. Im Laufe der Aufführungen verzichtet sie darauf und verbalisiert die Attacke: „Die Ohren einer Ratte, die Nase einer Ratte. Du bist die Ratte! Zeig deinen Rattenschwanz!“
„My tail is quite small“, kann er in der Verkleidung seines Assisstenten gerade noch sagen, ihm fehle es an Erfahrung im Umgang mit professionellen Darstellern, wird Weller selbst in den Nachdiskussionen zugeben. Die Frustration des Ensembles wich allmählich einer oberflächlichen Bereitwilligkeit an der Grenze zur Verweigerung. Ohne eigene Initiative waren die professionellen Darsteller und Darstellerinnen dabei und zugleich abwesend. Es entstand nichts mehr. Die Schlußfolgerungen lauten so: „Du spielst mit Ratten, weil du mit uns nicht kannst.“
Randgruppen definieren sich selber
Wellers Theater mit Kriminellen und psychisch Kranken – „Glad“, „Bad“ und „Mad“ des Grassmarket in Edinbourgh – ist preisgekrönt. Hier jedoch verlor er seine Defintionsmacht. Die Schauspielerin Walfriede Schmitt kommentiert: „Was heißt hier Randgruppe? Wir sind doch alle Angestellte des Senats.“
Für die Dramaturgie des Hauses war Weller „nach Berlin gekommen, um bei seinem bislang ungewöhnlichsten und innovativsten Projekt Regie zu führen“. Was dann im Programm dazu zu lesen war, geriet so konfus, daß Weller unmöglich etwas über Theater oder die neue Bundesrepublik erfahren haben kann. Auch nach allen Aufführungen dieser „Pest“ war darüber nichts Neues zu hören. Immer noch wurde ein Käfig voller Ratten auf die Bühne geschoben – Wellers größter Einfall – und Walfriede Schmitt rief: „Jetzt soll er bitte endlich einmal etwas Intelligentes sagen.“ Aber sein Alter Ego Chris forderte die Schauspieler nur auf, auf allen vieren zu laufen.
Das geschah. Die Absurdität fand ein dankbares Publikum. Ihm wurden belastende Erfahrungen erspart. Nie verließen mehr als fünf oder sechs Besucher eine Vorstellung. Eine Wiederaufnahme der Produktion im nächsten Jahr ist zumindest geplant.
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