piwik no script img

Der Yeti mit der Reisweinflasche

Vorwitziger Rückblick auf das äußerst vielversprechende Sportjahr 1993  ■ Von Matti Lieske

Monte Carlo, 24. Januar: Katrin Krabbe wird bei der Rallye Monte Carlo disqualifiziert, nachdem bei einer überraschenden Dopingprobe Spuren von Kerosin in ihrem Urin gefunden wurden. Teamkollege Walter Röhrl ist entsetzt: „Ich dachte, bei dem Zeug, das sie sich immer spritzt, handelt es sich um harmlose Anabolika.“

Morioka, 13. Februar: Als Alberto Tomba beim Spezialslalom der Alpinen Skiweltmeisterschaft mit dem Lift zum zweiten Lauf den Hang hinauffährt, reichen ihm seine zahlreichen japanischen Fans unterwegs etwa hundert Flaschen Reiswein. Wohlwissend, daß Ablehnung eine tödliche Beleidigung wäre, trinkt das italienische Wedelwunder aus jeder Flasche mindestens einen Schluck, legt die letzten zwanzig Meter auf dem Bauch rutschend zurück und schafft es oben gerade noch, seinem Betreuer ein fröhliches Salute zuzulallen. Dann fällt Tomba in Tiefschlaf. Auf einer eilig einberufenen Sitzung entscheidet die Jury, dem Italiener angesichts der ungewöhnlichen Umstände und der drohenden Haltung der japanischen Zuschauer eine Gnadenfrist einzuräumen und ihn als Letzten an den Start gehen zu lassen. Mit einer großen Portion Glasnudeln und einem halben Pfund Alka Seltzer fit gemacht, fährt Tomba absolute Bestzeit, verbessert sich vom fünften auf den ersten Rang und fällt dann in ein dreitägiges Koma.

Falun, 24. Februar: Bei der Nordischen Ski-WM holt der Norweger Vegard Ulvang sämtliche Goldmedaillen im Langlauf und kündigt an, gemeinsam mit dem Schweizer Pirmin Zurbriggen die Erstbesteigung des Mount Everest auf Skiern wagen zu wollen.

Frankfurt, 14. April: Überraschung beim Fußball-Länderspiel gegen Ghana. Als die Nationalhymnen erklingen, ist weit und breit keine Spur von der deutschen Mannschaft zu sehen. Eine Blitzrecherche unter den potentiellen Nationalspielern ergibt, daß keiner eine Einladung erhalten hat. „Ja, glauben Sie denn, ich laufe denen hinterher“, schimpft der einsam auf der Bank sitzende Bundestrainer Berti Vogts, „die Spieler haben alle meine Telefonnummer.“

Hamburg, 2. Mai: Was viele schon munkelten, wird jetzt offiziell bestätigt: die Mitarbeiter der Sat.1-Fußballsendung „ran“ sind vertraglich verpflichtet, sich das Samstagabendprogramm ihres Senders anzuschauen. Auswirkungen auf die Berichterstattung werden immer deutlicher. Mittelpunkt der Sendung vom 18. April ist ein mit versteckter Kamera gefilmtes halbstündiges Video aus der Bayern-Dusche, eine Woche später moderiert Jörg Wontorra eine Diskussion zwischen Otto Rehhagel und Erika Berger über die Frage „Sex in der Halbzeit — ja oder nein?“ und nun präsentiert Reinhold Beckmann als neuen Höhepunkt der Bundesliga-Berichterstattung die Wahl zum „Genitaliengriff des Jahres“.

Paris, 3. Juni: Nach ihrer 0:6, 0:6-Niederlage im Halbfinale der French Open gegen Arantxa Sanchez-Vicario erklärt Steffi Graf ihren Abschied vom Tennissport. Erstaunlich gefaßt und glücklich teilt sie mit, daß sie in Zukunft als Leadsängerin der Musikgruppe „Die Angefahrenen Schulkinder“ aktiv sein werde. Beim ersten Auftritt ihrer Band auf der Player's Party von Roland Garros erntet die scheidende Weltranglistenzweite stehende Ovationen für ihre Interpretation des Songs „I wanna make love to Steffi Graf“.

Darmstadt, 16. Juni: Das Schiedsgericht des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) spricht die Sprinterinnen Katrin Krabbe, Grit Breuer und Manuela Derr von jeglichem Dopingvorwurf frei und hebt ihre Sperren mit sofortiger Wirkung auf. Das Gericht beruft sich auf eine eidesstattliche Erklärung von Landwirtschaftsminister Ignaz Kiechle, der versichert, daß Kälber, die mit Clenbuterol behandelt wurden, keineswegs schneller laufen. Außerdem habe er selbst jahrelang Clenbuterol eingenommen, ohne irgendeinen Zuwachs an Dynamik zu verspüren. Die DLV-Richter kommen zu dem Ergebnis, daß es sich bei dem Medikament mitnichten um ein Anabolikum handle, sondern lediglich um eine Art „Hustenbonbon für Rindviecher“.

Wimbledon, 1. Juli: Boris Becker wird im Viertelfinale des Turniers von Wimbledon von Schiedsrichter Richard Inxs disqualifiziert, nachdem er der Herzogin von Kent zwischen zwei Ballwechseln einen Mercedes verkauft hat. Zuvor hatte Becker bereits eine Verwarnung wegen unerlaubter Geschäftstätigkeit erhalten, als er seinem Gegner Andrej Tschesnokow beim Seitenwechsel für den Erwerb eines Modells der S-Klasse einen zehnprozentigen Punktnachlaß im zweiten Satz versprach.

Mount Everest, 13. Juli: Überglücklich streben Vegard Ulvang und Pirmin Zurbriggen im Schlittschuhschritt dem nahen Gipfel zu, da trifft sie schier der Schlag. In einer Wolke aus Schnee und Eis braust, fröhlich eine Reisweinflasche schwenkend, eine fettleibige Gestalt auf sie zu, kurvt zweimal übermütig um sie herum und entschwindet mit wildem Gelächter im Tal. „Das war der Yeti“, murmelt Ulvang voller Ehrfurcht. Pirmin Zurbriggen sieht die Dinge realistischer und schwingt sich zu einem ungewohnten Redefluß auf: „Tomba, das zahl' ich dir heim.“

Sheffield, 2. August: Bei den Schwimm-Europameisterschaften wird den Fernsehjournalisten Michael Groß und Jörg Wontorra die Akkreditierung entzogen, weil sie sich im Ziel des 100m-Freistil-Rennens in das Becken gestürzt hatten, um die Siegerin Franziska van Almsick zu interviewen. Als die 15jährige entsetzt flüchtete, hatte sich Groß bei der Verfolgung zwar als der schnellere Schwimmer erwiesen, war jedoch durch ein hinterlistiges Foul zur Strecke gebracht worden, das Wontorra bei der Wahl zum „Genitaliengriff des Jahres“ abgeschaut hatte.

Las Vegas, 7. August: Wegen einer vorübergehenden Indisponiertheit gelingt Carl Lewis bei den WM-Ausscheidungen der US- Leichtathleten weder die Qualifikation für den Weitsprung noch für die Sprintstrecken. Lewis weicht in seiner Verzweiflung auf das Kugelstoßen aus und schafft dort sensationell die WM-Teilnahme. 14,88 Meter reichen zum Sieg, nachdem alle anderen Teilnehmer aufgrund der kurzfristig anberaumten Bluttests fluchtartig abgesagt hatten.

Las Vegas, 8. August: Zehnkampf-Weltrekordler Dan O'Brien verpaßt sensationell die Qualifikation für Stuttgart. Beim 100m-Lauf rennt er in die falsche Richtung. „Dave hat gesagt, da geht's lang“, rechtfertigt sich der enttäuschte O'Brien. „Irren ist menschlich“, sagt David Johnson, Bronzemedaillengewinner von Barcelona, der als Dritter gerade noch zur WM darf, und grinst unschuldig unter seiner Sonnenbrille hervor.

Stuttgart, 14. August: Katrin Krabbe wird Weltmeisterin über 100 Meter vor der Jamaikanerin Merlene Ottey und stürzt Manfred Donike in eine tiefgreifende Existenzkrise. Trotz emsiger Bemühungen gelingt es dem Dopingfahnder nicht, auch nur ein einziges verbotenes Mittel im Urin der Sprinterin zu entdecken. Lediglich Spuren von Kerosin und beachtliche Mengen von Reiswein können festgestellt werden, beides Substanzen, die nicht auf der Dopingliste des Welt-Leichtathletikverbandes (IAAF) zu finden sind. Als auch die Z-Probe negativ ausfällt, zerbricht Donike fein säuberlich sämtliche erreichbaren Reagenzgläser, schließt sein Labor ab, wirft den Schlüssel in den nächsten Gully und verschwindet spurlos. Gewährsleute versichern, ihn zuletzt völlig zerlumpt vor einer Greyhound-Station im mittleren Westen der USA gesehen zu haben, wo er Passanten mit den Worten ansprach: „Für fünf Dollar sage ich Ihnen, wie Sie Olympiasieger werden können.“

Stuttgart, 19. August: Carl Lewis gewinnt mit 16,32m die Silbermedaille im Kugelstoßen hinter Ulf Timmermann (16,99m). „Ich habe viel trainiert in den letzten Tagen, daher die Steigerung“, strahlt der US-Amerikaner in die Kamera und verkündet: „Jetzt will ich den Weltrekord.“ Der dritte Teilnehmer am Wettbewerb, der Schweizer Werner Günthör, bringt keinen gültigen Versuch zustande und löst eine Selbstmordwelle unter den Schweizer Journalisten aus.

Monte Carlo, 23. September: Kurz vor der IOC-Entscheidung über die Olympiastadt des Jahres 2000 platzt die Bombe: Helmut Kohl wird als Olympiabotschafter von Taschkent geoutet. „Der Gorbi hat mich drum gebeten“, erläutert Kohl seine Motive, „aus Reue, daß er sich für Berlin hat einspannen lassen.“ Die Berliner Olympia GmbH beginnt im Gegenzug auf der Stelle, schmutzige Einzelheiten aus ihrem Dossier über das Sauf- und Liebesleben des Kanzlers zu verbreiten. Doch umsonst: Während Berlin bereits in der ersten Runde durchfällt, wird Taschkent mit großer Mehrheit zur Olympiastadt 2000 gewählt.

Stralsund, 17. Oktober: Boris Becker, der seit Wimbledon nicht mehr trainiert hat und auf Platz 65 der Weltrangliste abgerutscht ist, sagt in einer Pressekonferenz, daß er überzeugt sei, am ATP-Finale im November teilzunehmen. Da eine theoretische Möglichkeit für Beckers Qualifikation nur noch besteht, wenn er die Turniere von Lyon, Stockholm, Paris und Antwerpen gewinnt und außerdem 45 der vor ihm plazierten Tennisspieler wegsterben, löst die Mitteilung ungläubiges Gelächter aus.

Kaiserau, 29. Oktober: Der Lehrgang der Fußball-Nationalmannschaft, zu dem Bundestrainer Berti Vogts 28 Aspiranten für die WM 1994 in den USA eingeladen hat, gerät zum Fiasko. Matthias Sammer und Andreas Möller sind gar nicht erst erschienen, weil sie mal wieder die Telefonnummer von Berti Vogts verbaselt haben; Thomas Doll, Karlheinz Riedle und Thomas Häßler, die seit acht Monaten kein Spiel mehr für ihre italienischen Clubs bestritten haben, beginnen jedesmal, bitterlich zu weinen, wenn sie eines Balles ansichtig werden; der zum Comeback überredete Rudi Völler bricht sich beim Versuch, den drei Meter hohen Stacheldrahtzaun der Sportschule Kaiserau zu überklettern, das Schlüsselbein und das zur Verbesserung der Stimmung angesetzte Tennisturnier platzt bereits in der Vorrunde: Stefan Effenberg weigert sich gleich in seinem ersten Aufschlagspiel, seinem Gegner Lothar Matthäus den Ball zuzuspielen. „Berti, hau ab!“, schreibt ein vierbuchstabiges Revolverblatt, und obwohl der Bundestrainer besagte Postille erklärtermaßen überhaupt nicht liest, gehorcht er: Vogts reicht seinen sofortigen Rücktritt ein.

Stralsund, 14. November: Kehrtwendung im Fall Becker. Nachdem es dem Stralsunder nicht gelungen ist, sich für das ATP-Finale zu qualifizieren, da er zwar die Turniere von Lyon, Stockholm, Paris und Antwerpen gewonnen hat, aber nur dreißig der in der Weltrangliste vor ihm stehenden Spieler unter mysteriösen Umständen verschieden sind, tut er kund, daß er das Tennisspiel endgültig aufgeben werde, ebenso den Autoverkauf. Statt dessen werde er in Cottbus eine Bratwurstbude eröffnen. „Ich habe erkannt“, so Becker, „daß ich den Menschen in den neuen Bundesländern auf diese Weise besser helfen kann als durch den Verkauf unerschwinglicher Autos.“ Den Bratwurst-Deal habe sein Manager Ion Tiriac vermittelt, der gemeinsam mit Uli Hoeneß weltweit sämtliche Rechte an der sogenannten „Thüringer Bratwurst“ erworben hat.

Frankfurt, 25. November: Dragoslaw Stepanović wird zum Nachfolger von Berti Vogts ernannt und lädt sogleich den erweiterten Kreis der Nationalmannschaft — 100 Spieler, darunter die gesamte Mannschaft von Eintracht Frankfurt außer Axel Kruse — zu einem Sichtungslehrgang in seine Kneipe ein. „Wenn die Stimmung gut ist, wedde mir Weltmeister“, gibt er als Losung aus, dennoch kommt es zu vorgerückter Stunde zum Eklat. Uli Stein erklärt seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft, nachdem ihn Stepanović als „Suppenkaspar“ bezeichnet hat.

Genf, 13. Dezember: Die Ergebnisse der gerichtsmedizinischen Untersuchungen im Falle der mysteriösen Todesfälle unter Spitzentennisspielern werden bekanntgegeben: alle sind an vergifteten Bratwürsten gestorben. Interpol verhaftet Ion Tiriac, läßt ihn jedoch wieder frei, nachdem er vor den Augen der Beamten fünf Dutzend seiner Bratwürste roh verzehrt hat, ohne irgendwelchen Schaden zu erleiden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen