■ Zum neuen Jahr: Die Sparpläne der Bundesregierung: Folgenreicher Zynismus
Preisrätsel zum Jahresbeginn: Finden Sie einen noch zynischeren Vorschlag zur Schließung der Haushaltslücken als den gerade veröffentlichten Kürzungsplan des zuständigen Ministers Theo Waigel. Der Gewinner erhält – nennen wir es ruhig den „Solidarpreis 93“ – eine Wochenendtour durch die Obdachlosenasyle einer deutschen Großstadt seiner Wahl. – Nein, bemühen Sie sich erst gar nicht. An Zynismus, am Ende wohl auch Dummheit, sind die Waigelschen Streichungspläne nicht mehr zu überbieten: man nehme es bei den Ärmsten und Desorientiertesten, den Sozialhilfeempfängern und Arbeitslosen, kurz, bei denen ohne ernstzunehmende Lobby.
Immerhin, der Zeitpunkt zum Jahresbeginn ist mit Überlegung gewählt: 1993 soll das bereits angedeutete Konzept endlich umgesetzt werden, wonach die Unterprivilegiertesten dafür aufkommen müssen, daß die Hoffnung einer schnellen Ost-West-Angleichung ad absurdum geführt wurde. Bevor der gesamte Osten weiter abdriftet, läßt man nun die Untersten in Ost und West noch ein Stück tiefer sinken. Das paßt am ehesten zur Sozialstruktur der alten Bundesrepublik und läßt ansonsten einen durchaus einheitsfördernden Zug erkennen: die Armen im Westen leisten ihren Beitrag, damit es vielleicht auch im Osten bald ein wenig besser geht. Für die Armen im Osten ergibt sich zudem ein drastischer Lerneffekt in puncto „neue Gesellschaft“.
Über die Folgen einer solchen Politik darf ebenso vage spekuliert werden, wie über die Ursachen der fremdenfeindlichen Gewalt, die das gerade zu Ende gegangene Jahr bestimmte. Doch daß die flächendeckende Entsolidarisierung zur gesellschaftlichen Befriedung und Toleranz beitragen wird, ist nur schwer zu begründen. Darin läßt sich die ganze Kopflosigkeit des Waigel-Vorschlages ablesen. Mit der sozialen Kälte, die er ausstrahlt, programmiert er die wachsende Verzweiflung und Agressivität derjenigen, die ohnehin immer weniger zu verlieren haben.
Die dumm-konsternierten Klagen über den grassierenden Werteverfall werden sich so 1993 noch ein Stück unverschämter anhören. So unverschämt, wie der Versuch, das Entsolidarisierungsprojekt unter dem Titel „Solidarpakt“ zu verkaufen. Das bewegt sich nicht mehr nur im Rahmen politiküblichen Ettikettenschwindels, das ist newspeak Bonner Prägung. Indem die richtigen Begriffe für ihr Gegenteil instrumentalisiert werden, wird zugleich die Chance zerstört, eine ernstgemeint-andere Politik in Zukunft überhaupt noch zu formulieren. Für das sprachlose Verhältnis von Politik und Gesellschaft wird dann auch das Wort des Jahres 1992 – Politikverdrossenheit – nur eine sanft-euphemistische Beschreibung liefern. Matthias Geis
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