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Das Land der runden Trampel

Italiens Schulsport: Fehlanzeige/ Wer turnen will, nimmt Privatunterricht/ Do-it-yourself-Verfahren mit meist ungelernten Trainern  ■ Aus Rom Werner Raith

„Aber natürlich“, die Maestra Nevilla Paganini erhebt auf unsere Frage hin die Augen zum Himmel, „educazione fisica ist doch das A und O elementarer Kinderbetreuung!“ Aha. Und wann macht sie die „Körpererziehung“ in ihrer Klasse – unsere Rebecca jedenfalls berichtet nie davon. „Natürlich machen wir das“, die Lehrerin schüttelt baß erstaunt den Kopf, „allerdings erst, wenn es die Umstände erlauben.“ Welche Umstände? „Haben Sie sich mal diese Schulbänke hier angesehen?“ fragt sie. „Eine Kante, zwei Kanten, drei, vier: das sind keine Bänke, das sind Mordwerkzeuge.“ Wir kommen nicht so ganz mit. „Wenn da einer herumrennt und sich den Kopf anhaut... Würden Sie da die Verantwortung übernehmen?“

Die Sache wird kompliziert. Wir hatten eine massive Aggressivität unserer Kinder registriert, sobald sie aus der Schule kommen, und das auf Bewegungsmangel zurückgeführt, daher unsere Intervention auf der Elternversammlung. Die anderen Mütter und Väter bestätigen die Aggressivität, ohne daraus allerdings die Forderung nach Bewegung abzuleiten. Daher, so die Lehrerin, habe man auch gar keinen Grund zum Lamento: erstens gebe es in der Umgebung keine Turnhalle – da sei aber Besserung in Sicht, „in spätestens drei, vier Jahren wird auch hier eine gebaut“. Da sind allerdings unsere Kinder schon aus der Schule. Und zweitens mache man doch Turnen – allerdings zur Zeit nicht, weil: „Haben sie mal das Wetter angeguckt?“

Tatsächlich – es regnete, ausnahmsweise in diesen sonst schönen Septembertagen, als wir erstmals nachfragten. Eine Woche danach regnete es nicht, dafür aber war es der Lehrerin zu kalt draußen, die Kinder könnten Schnupfen bekommen. Zwei weitere Wochen später, es war lau und regnete nicht, hatten leider leider die meisten Kinder keine Turnsachen dabei – kein Wunder, niemand hatte die drohende Leibesübung angekündigt. Dann wieder schien, es war November, die Sonne plötzlich wieder zu prall, da bekommt man im Süden immer noch leicht einen Sonnenstich. Und schließlich, als der Vater mit wütendem Gesicht vor der Schule stand und ostentativ Turnschuhe hißte – da bekam die Lehrerin Migräne.

Schulsport in Italien: eine Malaise ohnegleichen. Das, was uns in unserer Kleinstadt Terracina passierte, ist die Regel im ganzen Land. In den Provinznestern gibt es keine Turnhallen, weil es sich die Gemeinden nicht leisten können. In den Großstädten gibt es sie nicht, weil die ehemals bestehenden Strukturen durch benachbarte Supermärkte, Versicherungen oder Staatsämter geschluckt oder vor Jahren zu provisorischem anderweitigem Gebrauch umfunktioniert und seither nicht mehr zurückverwandelt wurden. Und gibt es sie, streikt sicher mal wieder der Nahverkehr, so daß der Transfer nicht gewährleistet ist. An die Schule angeschlossen sind Sportstätten kaum einmal.

Kleine Sterne unter Terpsichores Obhut

Für Eltern, die ihre Kinder nicht durch die im Süden unvermeidbare Pasta-Kost und Untätigkeit zu rundlichen Faulpelzen degenerieren lassen wollen, bleibt da nur die private Initiative – auf diesem Gebiet allerdings tut sich allerhand, speziell was den Sektor des Angebots angeht. Nahezu jede Woche macht irgendwo eine „Palestra“ auf, eine Turn- und Sportschule, verteilt ein Tennislehrer seine Angebote, macht sich ein Tanzunternehmen mit wunderlichen Namen wie „Terpsichorum“ (nach der antiken Muse) oder „Piccole stelle“ (Kleine Sterne) anheischig, aus rundlichen Trampeln ätherische Balletteusen zu fabrizieren.

In einigen Fällen ist wirklich Sportliches geboten, in anderen tritt, nach der gebührenden halbstündigen Verspätung, jeweils ein matronenhaftes Etwas oder ein ehrwürdiger Spaghettibehälter auf, bei dessen bloßem Anblick man schon Schweiß verspürt: in solchen Fällen kann man sicher sein, daß die Kinder im besten Falle Herumschreiten, Händebewegen und Hinternwackeln lernen bzw. am Ende gerade mal den Tennisschläger halten können.

Dafür gibt es am Kursende jeweils eine machtvolle Abschlußveranstaltung, bei Wettkampfsportarten ein Turnier, beim Tanzen oder Gymnastik eine Show- Nummer. Dafür müssen die Eltern zusätzlich zum Monatsabonnement noch einmal kräftig Eintritt blechen. Bei Tanzvorführungen erkennen sie dann meist ihre Sprößlinge nicht mehr, so grauenhaft wurden sie, selbst im Alter von fünf oder sechs Jahren, geschminkt und aufgeputzt.

In der Mittelschule sieht die Sache etwas anders aus: Da gibt es mitunter irgendwo hinten im Eck einen freien Raum, wo ein eifriger Pädagoge schon mal Kniebeugen und Armschlenkern läßt und bei gutem, aber nicht zu warmen Wetter und unter der Voraussetzung, daß eine qualifizierte Mehrheit Turnzeug dabeihat, auch mal Ballspiele übt und Turniere veranstaltet. An ein wirkliches Programm jedoch ist auch da nur selten zu denken. Reine Sportgymnasien, wie sie fast alle anderen europäischen Länder aufgebaut haben, sind unbekannt.

So unbekannt, daß in vielen Gegenden Versuche, so etwas einzuführen, alsbald daran scheiterten, daß die meisten Eltern ebenso wie ihre Kinder gar nicht imstande sind zu erkennen, was „Programm“ bedeutet. Da kommen die Kinder halt mal, mal nicht, auch wenn dadurch die Abonnements verfallen – und sind baß erstaunt, wenn ihr Dickerchen bald hintennach ist, ärgern sich darüber und bleiben daher auch bald weg.

Das schwierigste Problem sind sowieso immer die Eltern: unmöglich, sie, zumindest in den ersten Stunden, fernzuhalten und ihre von draußen gegebenen Anordnungen zu unterbinden. Gymnastik- oder Tanzstunden, Fußballlehrgänge oder Reitunterricht werden zum Alptraum der Trainer: Da holt die Mutter ihren Sohn aus der Runde heraus, weil „der das halt noch nicht kann“ – nicht daß er etwa zum Lernen da wäre – oder weil sie Angst hat, daß der Schatz vom Trampolin oder vom Pferd fällt, ins Schwitzen kommt oder zu weinen anfangen könnte. Oder da ordnet der Vater an, daß der Junge jetzt mal zu galoppieren hat, während ihm der Lehrer gerade die Grundbegriffe im Schrittreiten beizubringen versucht.

La mamma é sempre la mamma

Doch auch der Gedanke, Eltern schlichtweg auszusperren, hilft nicht weiter: Da ranken sich bald böse Gerüchte um die Einrichtung – man würde mit den Kleinen allerhand Unseriöses vorhaben, sonst hätte man doch wohl nichts gegen die Präsenz der Eltern – „la mamma é sempre la mamma“, die Mamma ist doch immer die Mamma, und gegen deren Anwesenheit kann sich niemand ein Veto unterstehen, der dem Nachwuchs wohl will.

Ganz ohne Sinn ist das System dennoch nicht. Denn da staatliche Bewegung fehlt, ist die Privatwirtschaft munter dran, sich an der Notwendigkeit körperlicher Betätigung goldene Nasen zu verdienen. Weniger die Turn-, Taekwondo-, Tennis- und ReitlehrerInnen – denen gehen in der Regel, nach einem Einschreibeboom im ersten Monat, die Schüler zügig verloren. Aber die Ausstatter aller Arten: da Italien seit jeher vor allem vom schönen Schein lebt, stapeln sich in den Schränken der Jung-Eleven schon bald Turntrikots in tausenderlei Farben, Mantillas für den Judokampf in diversen Größen, Tennisschläger immer teurerer Sorten sowie Reitstiefel und -hosen aller Qualitäten. Denn wie die Tradition und Kinderliebe in Italien es wollen, hat das Kleine das letzte Wort, welche Sportart es ausüben will. Und wie das so geht, werfen sich die Kinder alle paar Wochen mit immer neuem Enthusiasmus auf eine neue Sportart.

Maestra Nevilla Paganini sieht das alles von der positivisten Seite. „Schauen sie“, sagt sie am Schuljahresende, „eine solche Vielfalt wie unsere Schüler hier außerhalb der Schule durchmachen, könnten wir ihnen hier ja gar nicht bieten.“

Sprach's und verschob den Turnunterricht erneut. Diesmal wegen einer Lehrerkonferenz.

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