: Avanti, dilettanti!
■ Der Offene Kanal Fernsehn in Bremen: Von Medien-Eunuchen und zu öffnenden Fenstern / Eine Reportage
„Hallo, hört mich jemand?“ Der Hilferuf kommt von Lena (16). Sie hat die Talk-Taste im „großen Studio“ gedrückt, und natürlich wird sie irgendwo im Hause gehört. Medienassistent Gunther Becker verläßt seinen Platz in der „Disposition“, eilt mint-weiße Flure lang und betritt den Raum, in dem Lena und ihr Klassenkamerad Julian zwischen ungefähr hundert Knöpfen und Reglern etwas vereinsamt sitzen. Sie haben „Gekrissel“ auf dem Bildschirm. Becker weiß Rat. „Insert-Schnitt oder Assemble-Schnitt? Habt Ihr das Bild codiert? Sooo schiebt Ihr das Gekrissel immer mit!“
Gekrissel auf dem Bildschirm
Lena und Julian schneiden, erläutern sie, zum Abschluß ihres Schulpraktikums „einen Werbefilm für den OK“, weil es ihnen hier so gut gefallen hat. Der „Offene Kanal“: seit August '92 gibt's das Bürger-TV auch im Land Bremen, als Nr.24 in den alten Bundesländern. Freier Zugang für alle, unzensiertes Senden, Chancengleichheit, das demokratische Medium per se - das versprach man sich Anfang der 80er von den Offenen Kanälen; damals wurde gleichzeitig mit der Einführung des dualen Rundfunksystems der Bürgerfunk gesetzlich möglich - als Kompensation für die Zulassung der Privaten. Am 1.1.1984 ging in Ludwigshafen der erste deutsche Offene Kanal auf Sendung.
Wenn keiner guckt, ist das auch gut
„Wenn keiner guckt, ist das auch gut.“ Medienassistent Becker weiß die Idee des OK zu pointieren. „Wir machen absolut radikales Spartenprogramm. Für bis zu drei interessierte Nachbarn.“ Die Berater geben sich als Diener, sie beantworten jede Frage, geben jede mögliche Hilfestellung, aber eine eigene Idee von dem, was hinten rauskommt - die haben sie nicht. Wollen sie nicht haben. Mit ihren eigenen Vorstellungen, was Qualität im OK heißen könnte, rücken sie nicht raus. Ein erstaunliches, ja unglaubliches Maß an Selbstverleugnung.
Britta Ditges ist 24 und vertont in einem kleinen fensterlosen Schnittstudio gerade ihren Film „In bed with my donna“. „Für ein homosexuelles Publikum,“ betont sie, während sich eine Protagonistin zum Szene-Renner „I am what I am“ räkelt. Da der OK Bremen zwischen 17.10 und 21 Uhr sendet (bisher nur mittwochs), muß der Streifen jugendfrei sein. „Man sieht allerdings ein bißchen Fleisch.“ Jeder Autor und jede Autorin von OK-Beiträgen zeichnen allein verantwortlich für ihren Beitrag. Für Britta Ditges ist diese Arbeit Berufsvorbereitung: Sie will auf jeden Fall Filmerin werden. Bis sie einen Studienplatz bekommt, macht sie auch noch bei der „Rosa Nordschau“ mit, einem „schwul-lesbischen Magazin“ aus Bremen, das einen festen Sendeplatz im OK-Programm hat. So ein fester Sendeplatz hat übrigens mit der reinen OK- Lehre nichts mehr zu tun; eigentlich gilt das „Prinzip Warteschlange“: die Beiträge (maximale Dauer 90 min) werden in der Reihenfolge gesendet, wie sie fertiggestellt werden. Heute ist bereits eine Wartzeit von vier Wochen die Regel.
Auch im Kabelnetz - der OK erreicht im Idealfall 190.000 Haushalte - herrscht Gedränge. Frequenzen sind knapp und teuer. Die Bremer behelfen sich bisher damit, daß sie sich am Sonderkanal 4, einem Infokanal der Post, beteiligen. Das hat den Nachrichten aus der „tiefen Schüssel“
Nachteil, daß viele, besonders ältere Leute Schwierigkeiten haben, diesen Kanal überhaupt zu finden. „Anfang '93 gibt es einen zweiten Sendetag und vielleicht bald einen eigenen Kanal,“ hofft Uwe Parpart. Parpart ist von Beruf „Beauftragter“, zuständig für den OK, sein Arbeitgeber ist die Landesmedienan-stalt, die sich um Private, Frequenzvergabe und eben Offenene Kanäle kümmert. Parparts Ideen vom OK sind weniger orthodox als die seiner Medienassi-stenten im Bremer OK-Studio. Die OK-Leute, meint er, sollten keine „Medien- Eunuchen“ sein. Er hält redaktionelle Betreuung für nötig, will „Fenster öffnen“ zu OKs in Hamburg oder Berlin, wo ökolo- gisch und kulturell spannende Programme gemacht werden. Und warum sollte man sich nicht mit Gleich-gesinnten in der ganzen Welt zusammensetzen, etwa „Deep Dish“, der „tiefen Schüssel“ in den USA? Dort werden die interessantesten und aktuellsten OK-Programme über schon über Satellit übertragen. „Wir sind ein Sender!“ Wie Uwe Parpart das sagt, klingt es beschörend. Und mit Blick auf ältere OKs im Südwesten der Republik, die brav verwalten und funktionieren, ergänzt er: „Das Schlimmste ist der Stillstand.“
Zwei Destruktive machen einen Gefangenen
In einem lichten Zimmerchen, nahe bei der Kaffee-maschine, sitzt ein vergnügter junger Mann und versucht, innerhalb einer krimireifen Szene einen sauberen Perspektivwechsel zu schneiden. Neben ihm flimmert ein Computer für die Titelgrafik. Sascha Würdemann (22) ist Postler. Alltags verkauft er Briefmarken am Schalter. Im OK kann er zeigen, was noch in ihm steckt. „Meine Grundstimmung,“ erzählt er, „ist, daß das Unerwartete passiert.“ So geht's denn auch in „Das Opfer“ zu, wo „zwei Destruktive einen Gefangenen machen.“ Die Schauspieler sind seine Freude; er hat schon mehrere Filme gedreht und will jetzt endlich mal einen Preis machen. Morgen kommt er wieder: „Dann bastel ich einen 15-Minuten-Trailer als Werbung für meinem Film.“
Bisher waren im Bremer Kabel zu sehen: ein Film übers Moor, 90 endlose Minuten über einen Zirkus, „Die Zukunft des Iran in Freiheit“, der Film einer Viseogruppe über Dorfhelferinnen, die Dokumentation eines Sibirien-Konvois mit Carepaketen und Bibeln, Life-Diskussionen zu „Rostock“ und zu möglichen Massenentlassungen bei den Bremer „Klöckner„-Werken, eine „Krimi-Persiflage“, Musikclips ... Der Bremer OK ist, wie gesagt, noch ganz jung, steht erst am Anfang einer dreijährigen Probephase. Er hat, finanziell vergleichsweise gut ausgestattet, noch alle Chancen.
Zu einem eher deprimierenden Ergebnis kommt indes eine neue empirische Studie (1), die Idee und Wirklichkeit des Offenen Kanals in Deutschland vergleicht. „Der OK muß nach dem Ein qualifizierter Töpferkurs?
Verhalten seiner Produzenten und Rezipienten wie im Spiegel seiner Beiträge noch als ein gern, intensiv und mit persönlichem Gewinn genutztes, aber vergleichsweise unpolitisches, wenig innovatives und zu wenig rezipiertes Medium beurteilt werden.“ Der OK - ein qualifizierter Töpferkurs? Politische Gruppierungen nutzen den OK kaum, Stammseher des OK sind 1-2% der Verkabelten, diese sehen nur Sport und Musik, die „User“ geben als Motiv Freude an Technik und berufliches Interesse an. Die Produkte sind „überwiegend mäßige bis schlechte Kopien“ bekannter öffentlich-rechtlicher und privater Programme. Und zum Thema „Chancengleichheit“: vernachlässigte Gruppen werden „eindeutig“ nicht gefördert. Die meisten Nutzer sind junge Männer von 20 bis 30 Jahren „mit überdurchschnittlicher formaler Bildung.“ Mit der Einschränkung, fast alle untersuchten OK hätten sich noch in der Aufbauphase befunden, kommt die Untersuchung zum Ergebnis: Der OK ist ein überschätztes Medium und dient der individuellen Selbsterfahrung.
Discos zeigen - damit die Jugendlichen nicht auf der Straße herumhängen
Zwei neue User betreten das schick im Techno-Look gestylte Foyer des OK, Kenan, ein 14-jähriger Türke, und Julio, sein 15-jähriger spanischer Freund. Sie kommen aus dem Arbeiterviertel Gröpelingen und haben in ihrem „Freizi“, dem Jugendfreizeitheim, vom OK gehört. Jetzt wollen sie Fernsehn machen. Irgendwas, „Diskos oder so, damit die Jugendlichen nicht auf der Straße rumhängen“. Wer soll ihren Film sehen? Na die aus der Klasse! Verkabelt sind sie sowieso alle, die Kumpels in Gröpelingen. Kenan und Julio, das ist der OK-Alltag, mit all seinen diffusen Optionen und Chancen. Ein OK-Kenner brachte das komplexe Verhältnis von Ambition und Dilettantismus einmal im Titel einer einschlägigen Publikation auf den Punkt: „Avanti dilettanti!“ Burkhard Straßmann
(1) Peter Winterhoff-Spurk / Veronika Heidinger / Frank Schwab. Der Offene Kanal in Deutschland - Ergebnisse empirischer Forschung. Deutscher Universitäts Verlag '92
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