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Honecker überlebt seinen Richter

■ Honecker-Richter Bräutigam abberufen/ Der Vorsitzende Richter heißt nun Hans Boß

Berlin (taz) – Eine läßliche Sünde brachte ihn, wie gerade erst Jürgen Möllemann, zu Fall: der Vorsitzende Richter im Honecker-Prozeß, Hansgeorg Bräutigam, wurde gestern wegen Befangenheit von seinem Amt enthoben. Wie am Dienstag berichtet, hatte Bräutigam in einem Zwiegespräch mit den Verteidigern Honeckers den persönlichen Autogrammwunsch eines Schöffen an den Angeklagten weitergegeben und anschließend behauptet, das Hintergrundgespräch habe der Übermittlung einer „normalen Postsache“ gedient. Die Nebenkläger sowie die Verteidiger Honeckers hatten auf diese unwahre Behauptung hin einen Befangenheitsantrag gestellt, dem von der 27. Großen Strafkammer Berlin flugs und überraschend stattgegeben wurde. Der autogrammheischende (Ersatz-)Schöffe wurde inzwischen ebenfalls entbunden.

Der neue Vorsitzende Richter trägt den schönen Namen Hans Boß. Im Gegensatz zu Bräutigam, der erst im Frühjahr dieses Jahres den Vorsitz der 27. Großen Strafkammer übernahm, gehört Boß dem Gericht schon seit Jahren an. Besagte Kammer gilt als „Prominentenkammer“ in Berlin-Moabit, was mit dem Ruf des früheren Vorsitzenden Hans Prüfer zusammenhängt. In Vertretung von Prüfer leitete der 47jährige Boß in den letzten Jahren schon mehrfach die Sitzungen der Schwurgerichtskammer, die für die schwersten Delikte wie Mord, Totschlag und Honecker zuständig ist. Der Verhandlungsstil des bisherigen Berichterstatters im Honecker-Prozeß ist als zurückhaltend, aber überaus korrekt bekannt – woraus sich auch die auf ihn gesetzten Hoffnungen für einen seriösen Fortgang der zunehmend unseriösen Verhandlung speisen.

Bräutigam hatte sich bis zu seiner unrühmlichen Entlassung Kritik von befangener wie unbefangener Seite durch Verhaltenseigentümlichkeiten innerhalb und außerhalb des Prozesses zugezogen: sein fahriger Verhandlungsstil wie sein Publicitybewußtsein trugen ihm wenig Vertrauen ein und nähren nunmehr den Verdacht, die 27. Strafkammer nehme die Gelegenheit wahr, sich Bräutigams zu entledigen. Der Prozeß als Strafersatz jedoch kann nicht als Erfindung des abberufenen Bräutigam gelten, weshalb sich die Chancen der Verteidigung, Honecker aus Gesundheitsgründen zu entlassen und den Prozeß zu beenden, mit diesem Personalwechsel nicht unbedingt erhöhen. Dennoch haben die Honecker-Anwälte gestern unverdrossen das ihrige getan, um den Prozeß zu beenden: beim Berliner Verfassungsgericht ging gestern ein Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls gegen Honecker und Einstellung des Prozesses aus den bekannten gesundheitlichen Gründen ein. Anwalt Ziegler begründete den Antrag damit, daß die weitere Inhaftierung des Ex-Staatsratsvorsitzenden einen Verstoß gegen die Menschenwürde und die freie Entfaltung der Persönlichkeit darstelle. ES

Tagesthema Seite 3

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