Russen-Invasion bleibt aus

Neue Paßgesetze des Moskauer Parlaments gewähren Reisefreiheit/ Aber die von deutschen Behörden errichteten Hürden sind kaum zu bewältigen  ■ Von Anita Kugler

Berlin. Als US-Präsident Bush vor einigen Jahren dem sowjetischen Präsidenten Gorbatschow drohte, er werde die Kreditzusagen vergessen, wenn die UdSSR nicht endlich ihren Bürgern Reisefreiheit gewähre, ahnte er nicht, in welche Schwierigkeiten er damit die Westeuropäer bringen würde. Und als das russische Parlament 1989 beschloß, das rigide Paßgesetz zu ändern, befürchteten die Pessimisten im Westen gleich eine Invasion von mindestens 15 Millionen Russen auf dem Kurfürstendamm oder am Genfer See.

Seit dem 1. Januar ist das Gesetz nun in Kraft getreten. Alle Russen brauchen nicht mehr wie zuvor die „Genehmigung zur Ausreise“, sondern können jetzt einen Reisepaß beantragen. Sie haben somit das Recht erworben, überall dorthin zu reisen, wohin es ihnen beliebt. Theoretisch zumindest. In der Praxis bedeutet das Paßgesetz mitnichten größere Mobilität. Auf dem Kurfürstendamm werden auch weiterhin kaum russische Normaltouristen zu sehen sein. Denn erstens sind die neuen Pässe teuer, alleine das Beantragen kostet 10.000 Rubel. Und zweitens — und da hat sich überhaupt nichts geändert — brauchen Russen, die den Westen sehen wollen, nach wie vor ein Einreisevisum. Und dieses zu erhalten, gleicht einem Lotteriespiel. Nicht russische Apparatschiks entscheiden über die Vergabe des wichtigen Papiers, sondern deutsche Bürokraten in Außenstellen des Auswärtigen Amtes in Moskau oder St. Petersburg. Und bei der Entscheidung „visawürdig oder unwürdig“ haben sie einen Ermessensspielraum, den die Betroffenen geradezu als Willkür empfinden. Jeder deutsche Wissenschaftler, der einen Kongreß mit russischen Gästen organisiert, kann ein Lied davon singen. Im Dezember platzte fast eine russische Lesereihe, weil die Autoren erst in letzter Sekunde die Einreisegenehmigung erhielten.

Wichtigste Voraussetzung, um in Moskau oder St. Petersburg ein Einreisevisum zu erhalten, ist der Nachweis, daß der Tourist genügend Devisen hat, um seinen Unterhalt, eventuell notwendige medizinische Betreuung und sein Rückkehrticket zu bezahlen. Diese Voraussetzung ist durch den Paragraph 84 des Ausländergesetzes geregelt. Weil der Rubel aber nicht konvertierbar ist und nur Geschäftsleute im Westen über Konten verfügen, braucht der Tourist oder Kongreßbesucher daher nach wie vor eine Einladung aus Deutschland. Er muß einen Gastgeber finden, der schriftlich bestätigt, daß er bereit ist, sämtliche gesetzliche Bedingungen zu erfüllen, und den Gast finanziert. Dazu muß der Gastgeber die Unterschrift unter der Einladung entweder bei der Meldebehörde oder bei einem Notar beglaubigen lassen. Wenn der reisewillige Russe Glück hat, dann reicht diese notariell bestätigte Einladung aus, um ein Visa zu beantragen. Er muß aus Sibirien oder von der Wolga nach Moskau oder St. Petersburg reisen, stunden-, wenn nicht tagelang beim Konsulat anstehen, die Einladung abgeben, die eigene Identität beweisen und einen Haufen Formulare ausfüllen. Dann darf der Reisewillige wieder nach Hause fahren, denn vor der eigentlichen Visaerteilung überprüft das Konsulat erst durch eine Anfrage beim Bundesverwaltungsamt in Köln, ob gegen den Antragsteller irgend etwas Negatives vorliegt. Sollte dies nicht der Fall sein, steht dem begehrten Stempel nichts mehr im Wege.

Zumindest dann nicht, wenn der Antragsteller Glück hat. Aber das haben, wie viele Berichte es beweisen, nicht sehr viele. Denn über die Glaubwürdigkeit der Einladung entscheiden die Konsulatsbeamten. „Nach Erfahrung und mit Menschenkenntnis“, heißt es im Auswärtigen Amt, „denn gefälschte Einladungen kursieren zu Hauf.“ Nicht selten verlangen die deutschen Beamten deshalb noch den zusätzlichen Nachweis, daß der Gastgeber für seinen Gast eine Krankenversicherung abgeschlossen hat. Das ist zwar nicht gesetzlich vorgeschrieben, aber der Abschluß ist auch nicht verboten. Recht häufig wird statt der formlosen Einladung auch eine in Deutschland unterschriebene „rechtsverbindliche Erklärung nach dem Ausländergesetz“ verlangt. Dieses Formblatt existiert aber nicht für Normaltouristen, sondern liegt in den Einreisestellen der Ausländerbehörden nur für die deutschen Staatsangehörigen aus, die russische Verwandte einladen wollen. Denn nur bei Verwandten prüft nicht das Auswärtige Amt die Voraussetzungen zur Visaerteilung, sondern die lokalen Behörden. Hier muß der Gastgeber seine Seriosität durch Gehaltszettel beweisen. Das neuerrichtete Paragraphendickicht, so scheint es, ist ebenso undurchdringlich wie der vielbeschworene Vorhang.