Lenin ist an allem schuld

Zarenreich und Revolution im gegenwärtigen russischen Kino  ■ Von Klaus Gestwa

Geschichte hat in Rußland momentan Hochkonjunktur, insbesondere die vor 1917, denn mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und damit der marxistisch- leninistischen Ideologie hat die nachrevolutionäre Zeit an Bedeutung verloren. Schon in der Sowjetperiode war dabei das Kino als wichtiges Massenmedium eingesetzt worden, um Geschichtsbilder zu propagieren. An diese Tradition knüpfen in letzter Zeit zahlreiche neue historische Filme an. Der wohl populärste ist der des bekannten russischen Schauspielers und Regisseurs Stanislaw Goworuchin. Mit seiner Dokumentation „Das Rußland, das wir verloren haben“ präsentiert er heute dem breiten Kinopublikum seine Interpretation der Geschichte des Zarenreiches.

Ausgangspunkt ist die These, daß Rußland sich am Vorabend des Ersten Weltkrieges aufgrund der erreichten Leistungen in der Industrialisierung und politischen Gestaltung günstige Entwicklungsperspektiven erarbeitet hatte. Spätestens nach 20 Jahren hätte das Zarenreich alle anderen Großmächte überholt, wären nicht die Bolschewiken mit ihrer Oktoberrevolution dazwischengekommen, um das russische Volk von seinen nationalen Wurzeln zu trennen und in eine neue menschenverachtende Gesellschaftsformation zu zwängen. Dementsprechend ist der Film konzipiert. Ausgiebig bedient er sich der Suggestivkraft von Kontrasten: Die „großartigen Erfolge“ des späten Zarenreiches werden dem „roten Terror“ des Sowjetregimes entgegengestellt. Ohne Schwierigkeiten hätte Goworuchin zwar auch für die Zeit vor 1917 Filmmaterial finden können, das die teilweise erbärmlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen in den russischen Städten dokumentiert. Die hohe Sterblichkeit in Rußland, die bei weitem die aller anderen europäischen Staaten übertraf, blendet er aber genauso aus wie das rückständige Leben in den russischen Dörfern, in denen die große Mehrheit der Bevölkerung lebte. Statt diesen prägenden sozialen Phänomenen entsprechende Beachtung zu schenken, wird mit Hilfe einiger weniger Einzelfakten das Zarenreich zu einer gedachten harmonischen Ordnung glorifiziert.

Gleichsam kontrastiv stellt Goworuchin die führenden Persönlichkeiten des Zarenreiches denen des Sowjetreiches gegenüber. Ausführlich belegt er mit Archivalien die Verantwortlichkeit Lenins für die Massaker in den ersten Jahren der bolschewistischen Herrschaft. Minutenlang erscheinen grausame Bilder von Erschießungen und Massengräbern auf der Leinwand. Die gleiche Zeitspanne wird dem Familienleben des letzten Zaren eingeräumt. Briefe Nikolaus II. an seine Frau sollen die Liebenswürdigkeit und die Herzlichkeit des letzten russischen Autokraten beweisen, der sich, auch wenn er ein schwacher Herrscher war, in seinen menschlichen Qualitäten deutlich von der Skrupellosigkeit der späteren bolschewistischen Machthaber abhob.

Neben der Einseitigkeit des dargestellten Materials agiert Goworuchin gewissenlos mit falschen Fakten und kommt so, fernab von jeglichem historischem Wahrheitsgehalt, zu abstrusen Schlußfolgerungen. Offensichtlich spekuliert er dabei auf das Nichtwissen des Kinopublikums um diese historischen Fakten. Den sowjetischen Historikern wirft er vor, in ihrer Interpretation der russischen Geschichte aus Plus Minus gemacht zu haben, und nimmt sich selber in die Pflicht, dies rückgängig zu machen. Bei dieser Umdeutung verfährt Goworuchin jedoch unter umgekehrten Vorzeichen nach dem gleichen Schema und ersetzt alte sozialistische Dogmen nur durch neue nationale Geschichtsmythen.

In Anbetracht der zahlreichen verlorenen und falschen Fakten entsteht der beklemmende Eindruck, daß es Goworuchin mit seinem Film bewußt nicht darum geht, mit der Wiederentdeckung des zaristischen Rußland aufklärerische Erfahrungsbezüge zu schaffen. Er umgeht es, in kritischer Distanz zu seiner eigenen Sichtweise aufzuzeigen, in welchen Identitäts- und Traditionsbündeln die Russen auch heute noch stehen. Seine partielle Wiederentdeckung des zaristischen Rußland vermeidet verunsichernde Kritik und irritierende Analyse. Angesichts des desolaten geistigen Zustands der postkommunistischen Übergangsgesellschaft will Goworuchin in der Vergangenheit vielmehr positive Anknüpfungspunkte ausmachen, um damit einen neuen russischen Nationalstolz zu prägen. Das schafft Selbstgewißheit und Herkunfstreue zu seinen historischen Wurzeln, mit der den weitreichenden Folgen der momentanen Umwälzungsprozesse besser standgehalten werden kann. Die Geschichte des Zarenreiches benutzt Goworuchin wie der Betrunkene den Laternenpfahl: als Stütze, nicht als Erhellung. Fehlende Quellenkritik und Selbstaufklärung führen zu einer undifferenzierten Romantisierung des historischen Erbes. Sie schaffen Raum für nationale Emotionen und neue Harmonieideale. Geschichte degeneriert zur therapeutischen Spielwiese, um das psychologische Krankheitsbild des entwurzelten homo sovieticus zu stabilisieren.

Darüber hinaus zielt Goworuchin auf eine historische Schadensabwicklung, die nach dem Zerfall des Sowjetimperiums den russischen Bürgern helfen soll, sich von der historischen Last 74jähriger sowjetischer Herrschaft freizumachen. Die kontrastive Gegenüberstellung von Zarenreich und Sowjetmacht grenzt die Bolschewiken aus der eigentlichen historischen Entwicklung der russischen Nation aus und läßt die Oktoberrevolution als geschichtlichen Unfall erscheinen. Mit der Dämonisierung Lenins, der Charakterisierung der neuen Machthaber als bezahlte Spione des kaiserlichen Deutschland und subversive Elemente, die nach 1917 ihre kriminellen Energien gegen das russische Volk entladen konnten, sind schnell Schuldige gefunden. Das macht es überflüssig, nach der eigenen Involviertheit in das alte Machtsystem zu fragen und seine Handlungen selbstkritisch aufzuarbeiten. Wenn Goworuchin auch noch 15 Minuten in aller Deutlichkeit recherchiert, daß Lenin nur „wenig russisches Blut“ hatte, dann spielt sein Film jenen Nationalisten zu, die in der Sowjetgeschichte die dunklen Kräfte der Russophobie am Werk sehen.

Das Fallen der ideologischen Tabu-Zonen hat jetzt die Leerstellen im Geschichtsbewußtsein der Russen deutlich aufgezeigt. Anstelle eines sozialkommunikativen und auf Emanzipation ausgerichteten Schaffensprozesses von Geschichtskultur agieren in der „toten Zone“ zwischen unbewältigter Vergangenheit, nicht erklärbarer Gegenwart und hoffnungsloser Zukunft hemmungslos Propheten wie Goworuchin, die sich zum Sinnstifter berufen fühlen und sich in ihrer Popularität sonnen. In der Aneignung und Deutung der russischen Geschichte geben sie, maßgeschneidert für den nationalen Gefühlsbedarf vieler Russen, Themen vor, die in spezifischer Weise einen Mentalitäts- und Wertewandel zum Ausdruck bringen. Die Transformationskrise hat den Mythos des Westens entzaubert und läßt viele nach einem eigenen russischen Weg in die postkommunistische Gesellschaft suchen, was immer darunter auch zu verstehen ist.

Es ist bezeichnend für die momentane Situation, daß Goworuchin in den Perestroika-Jahren ein gerngesehener demokratischer Bannerträger war, heute aber ohne alle Scheu mit den Nationalisten auftritt. Und zu denken gibt, daß ein demokratischer Hoffnungsträger, der ehemalige Moskauer Vize- Bürgermeister und jetzige außenpolitische Berater Jelzins, Sergej Stankewitsch, Verantwortung für die wissenschaftliche Betreuung des Films trägt. Es scheint, als ob nationale Nostalgien und die Vorstellung einer internationalen antirussischen Verschwörung politisch allmählich hoffähig werden.