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„Die warten nur, bis wir tot sind“

Die Kölner Informations- und Beratungsstelle für NS-Opfer kämpft mit bürokratischen Hemmnissen und finanziellen Engpässen/ Viele Nazi-Opfer haben bisher keinen Pfennig erhalten  ■ Aus Köln Thomas Gehringer

Frühjahr 1941: Der 20jährige Luftwaffensoldat Rudolf Lorenz will mit eigenen Augen sehen, was ihm jüdische Zwangsarbeiterinnen über das Warschauer Ghetto berichtet haben. Lorenz ist bei einer Spezialeinheit stationiert, die den Bau eines Flugplatzes in Neuhof/ Polen überwachen soll. Auf einer Straße im Ghetto sieht er einen offensichtlich toten alten Mann liegen. Doch plötzlich bewegt der angebliche Tote einen Arm. Lorenz will helfen, beugt sich nieder und erhält im nächsten Augenblick einen Knüppelhieb. „Das ist ein Jude. Die müssen sehen, daß wir sie krepieren lassen“, schreit ihn ein deutscher Wachmann an.

Das Nachkriegsdeutschland mochte von den Oppositionellen und Opfern des Nationalsozialismus wenig wissen. Entsprechend wurde mit ihnen bei der Frage der „Entschädigung“ verfahren. Das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) gab nur einem Teil der politischen Gegner der Nationalsozialisten eine Chance, materielle Ansprüche für erlittenes Unrecht geltend zu machen. Viele fielen dabei durch das Raster: Zwangssterilisierte etwa, Homosexuelle, Kommunisten, die meisten Sinti und Roma und Menschen, die von den Nazis als „Asoziale“ gebrandmarkt und inhaftiert wurden. Auch der „Widerstand der kleinen Leute“, die Juden versteckten oder als Soldaten Befehle verweigerten, wurden häufig nicht belohnt - von angemessener gesellschaftlicher Anerkennung gang zu schweigen. „Allein in den alten Bundesländern leben nach Schätzungen 300.000 Verfolgte, die keine oder keine ausreichende Entschädigung erhalten haben“, erklärten Verfolgtenverbände Anfang des Jahres. Doch weiterhin wird kleinlich um bescheidene „Entschädigungs“-Summen gefeilscht.

Herbst 1941: Der 21jährige Rudolf Lorenz nimmt mit seiner Sondereinheit am Rußlandfeldzug teil. Er weigert sich, bei der Verschleppung von Juden mitzuhelfen. Bei einem Erschießungskommando (der Wehrmacht!) feuert Lorenz, der wegen seiner Fähigkeiten als Scharfschütze zu der Einheit abkommandiert worden war, absichtlich daneben. Das Opfer entkommt im Wald. „Es will mir nicht in den Kopf, daß Sie das nicht können“, sagt der Richter beim Luftwaffenfeldgericht in Berlin-Steglitz später. „Vielleicht ist das angeboren“, antwortet Lorenz. Er wird wegen Befehlsverweigerung zu einem Jahr Haft verurteilt und muß – auch wegen einer angeblichen Gehirnkrankheit seines Vaters – Untersuchungen in Nervenheilanstalten über sich ergehen lassen. In den Anstalten Waldheim und Wiesloch erlebt er, wie ein Bekannter und ein schwer verwundeter Soldat zuTode gespritzt werden.

Der Weg zur Kölner Informations- und Beratungsstelle für NS- Verfolgte, der bundesweit einzigen Institution, die sich um alle Opfergruppen kümmert, hat etwas Entmutigendes. Die kargen Räume liegen im dritten Stock eines Schwimmbades; wer dorthin will, muß, den Chlorgeruch in der Nase, vorbei an Menschen in Badeschlappen, die Eingangshallen durchqueren. Die Lage spiegelt die finanzielle Situation wider: Jedes Jahr aufs neue müssen die Kölner um den Fortbestand ihrer Arbeit bangen. 1990 wurde die Beratungsstelle u.a. vom Kölner El-De- Haus-Verein gegründet, mittlerweile sind die Sozialarbeiterin Sonja Schlegel und eine Verwaltungskraft Angestellte eines in diesem Jahr gegründeten Bundesverbandes, der die unterschiedlichsten Verfolgtenverbände unter einem Dach vereint. Doch die sind mit ihren bescheidenen Mitteln überfordert. Da beim Bund bisher nichts zu holen war, sprang das Land Nordrhein-Westfalen zweimal mit einem Personalkostenzuschuß ein. Für das Jahr 1994 geht das Rennen schon jetzt wieder los.

Das unzureichende BEG wurde im Laufe der Jahre durch Härteregelungen des Bundes und der Länder ergänzt. So gibt es seit Anfang der achtziger Jahre Fonds für jüdische (zuständig: Claims Conference, Frankfurt) und nichtjüdische (zuständig: Regierungspräsident Köln) NS-Verfolgte, die nicht die Antragsfrist aus dem BEG (bis spätestens 1969) einhalten konnten oder die nach neuerer Rechtsauffassung doch anspruchsberechtigt sind. 1988 wurden im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes (AKG) weitere Härteregelungen erlassen (zuständig: die Oberfinanzdirektion). Hinzu kommen Härtefonds oder Stiftungen der Länder Berlin, Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Schleswig- Holstein und seit diesem Jahr auch in Hessen. In Nordrhein-Westfalen hatten die Grünen vor einem Jahr einen Gesetzentwurf über die Anerkennung und Versorgung der Verfolgten des Nationalsozialismus vorgelegt, der freilich bis heute keine Mehrheit gefunden hat. Übrigbleiben wird wohl ein (von der Landesregierung bisher mit einer Million Mark ausgestatteter) Härtefonds, zu dem das Düsseldorfer Innenministerium nun einen enttäuschenden Richtlinien- Entwurf vorgelegt hat. Günter Dworek, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Landtagsfraktion der Grünen, bezeichnet ihn als „niederschmetternd“ und „unverfroren“. Dworek: „Das ist eine Beerdigung dritter Klasse.“

Statt Entschädigung für erlittenes Unrecht sollten „NS-Opfer aus humanitären Gründen im Falle der Bedürftigkeit soziale Unterstützungen erhalten“, so Schnoor. Im Gegensatz zu den anderen Landeshärtefonds sollen keine laufenden, sondern nur einmalige Beträge bis zu 7.000 Mark (höchstens auf ein Jahr verteilt) ausgezahlt werden. Gleichzeitig werden Zahlungen aus anderen Entschädigungstöpfen angerechnet. Da hier die einmaligen Zahlungen in der Regel 5.000 Mark betragen, schätzt Dworek, „daß ein großer Teil der Berechtigten höchstens 2.000 Mark erhalten kann“. Wer laufende Beträge erhält, egal in welcher Höhe, für den kommen laut den Richtlinien „Unterstützungen nicht in Betracht“. Bleibt es dabei, hätte die Landesregierung die Zwangssterilisierten mit einem Federstrich von ihrem Härtefonds ausgeschlossen. Denn die können seit Juli 1990 bei den Oberfinanzdirektionen eine monatliche Zahlung von 100 Mark beantragen.

Sommer 1943: Der 22jährige Rudolf Lorenz sitzt in der Todeszelle des Wehrmachtsgefängnisses Germersheim, ohne daß ein Todesurteil ausgesprochen wäre. Von einem Gefangenentransport an die russische Front war er geflohen, mit falscher Uniform nach Deutschland zurückgekehrt, dort aber gefaßt worden. In Germersheim kann er Kontakt zu einem Mithäftling aufnehmen, einem zum Tode verurteilten Obergefreiten. In seiner Verzweiflung mischt dieser das Essen mit dem eigenen Kot. „Solange ich das mache, halten die mich für verrückt und bringen mich nicht um“, sagt der Obergefreite. Der Mann irrt: Rudolf Lorenz wird später gezwungen, die Erschießung des Mithäftlings mit anzusehen.

Arbeit hat die Kölner Beratungsstelle für NS-Verfolgte genug: Über 600 Frauen und Männern standen die MitarbeiterInnen seit über zwei Jahren im Labyrinth der „Wiedermutmachungs“-Praxis bei. Tatsächlich gingen bisher viele leer aus: Vor allem die ausländischen ZwangsarbeiterInnen, deren Entschädigung als „Reparationsforderung“ bis zu einer endgültigen Regelung zurückgestellt worden war. Deserteure und Kriegsdienstverweigerer, Homosexuelle und Zwangssterilisierte gelten bis heute nicht als „Verfolgte“ und können allenfalls auf Härteleistungen hoffen. Wenn man eine einmalige Beihilfe von bis zu 5.000 Mark erhalten will, darf man als Alleinstehender nicht mehr als 1.401 Mark (verheiratet: 1.764 Mark) im Monat verdienen. „Gleich die zweite Frage lautet immer: Wieviel Geld haben Sie denn?“ Sonja Schlegel findet das „unheimlich peinlich“. Bei laufenden Beihilfen darf man zwar 300 Mark mehr verdienen, dafür muß man eine schwere Verfolgung nachweisen, etwa mindestens neun Monate KZ-Haft. Und oft erwarten die Behörden, daß die Antragsteller Urkunden, Beweise, Zeugen für die Geschehnisse in den 30er und 40er Jahren beibringen. Auch in dem geplanten NRW-Härtefonds würden nach den vorliegenden Richtlinien mit beiden Instrumenten, den niedrigen Einkommensgrenzen und der den Betroffenen zugeschanzten Beweislast, wieder eine große Zahl ausgeschlossen.

Entsprechend enttäuscht und verbittert sind viele der NS-Opfer, die die Kölner Stelle um Hilfe bitten. „Die Verfolgten schreiben uns sehr oft von ihrem Gefühl: ,Die Politiker warten nur, bis wir tot sind.‘“ Tatsächlich lassen sich die Behörden, so die Erfahrung von Sonja Schlegel, viel Zeit beim Bearbeiten der Anträge. Wie im Fall von Bernd G. Vor dem Krieg lebte er mit seiner Familie als Deutscher in Polen. Nach dem Überfall der Wehrmacht ging er in den Untergrund, kämpfte bei den Partisanen und schmuggelte zwölf jüdische Familien über Prag in die Freiheit. Im Mai 1990 wandte sich der mit nur einer bescheidenen Rente ausgestattete G. an die Kölner Beratungsstelle, im November beantragte er beim Kölner Regierungspräsidenten eine einmalige Beihilfe. Monatelang reagierte die Behörde nicht, forderte dann Belege, die Bernd G. nicht bringen konnte. Im Juni 1991 reagierte dagegen die Axel-Springer-Stiftung schnell und unbürokratisch und gewährte G. eine monatliche Beihilfe. Der Regierungspräsident Köln lehnte daraufhin, nach einjähriger Bearbeitunszeit, den Antrag ab. Begründung: Mit dem Stiftungs-Geld liege G. nun ja über der Einkommensgrenze. Auch die persönliche Intervention von NRW-Innenminister Herbert Schnoor beim Bundesfinanzministerium hatte keinen Erfolg. Statt einer Entschädigung, so der Vorschlag der Waigel-Behörde, soll G. nun als „unbesungener Held“ geehrt werden.

Winter 1944: Der 24jährige Rudolf Lorenz, vom Kriegsgericht Torgau wegen Fahnenflucht und Sabotage zum Tode verurteilt, wartet im dortigen Wehrmachtsgefängnis auf seine Hinrichtung. Seine Mutter und Schwester, die noch mit Gnadengesuchen alles versuchen, besuchen ihn. Ihre Mitbringsel für den Todeskandidaten werden vom Unteroffizier Klose vor den Augen des Häftlings zertreten. Die Exekution läßt auf sich warten; die Rote Armee und die U.S. Army rücken näher. Im April 1945 wird das Gefängnis aufgelöst. Einige Häftlinge werden noch in Torgau erschossen, weitere, etwa hundert, während des wochenlangen Fußmarsches in Richtung Tschechoslowakei. In Königswalde wird Rudolf Lorenz aus der Kolonne von einer Frau heimlich in ein Haus gezogen: „Was machst du noch hier? Der Krieg ist aus!“

Eine Reihenhaussiedlung in einem Kölner Vorort, Winter 1992. Den Sachsen Rudolf Lorenz hat es ins Rheinland verschlagen. Er hat überlebt, nicht nur die Nazis, auch die neuen Herren in seiner Heimat, mit denen er sich nach 1945 ebenfalls schnell anlegte.

1945 hofft Lorenz auf einen besseren Staat, „weil ich nur die besten Erfahrungen mit Russen gemacht habe“. Er tritt in die KP ein, wird in seiner sächsischen Heimatstadt Lauenstein wegen der untadeligen Vergangenheit Polizist. Er muß erleben, wie Soldaten der Roten Armee Frauen vergewaltigen, darunter seine eigene Mutter. Und wieder weigert er sich: diesmal echte und angebliche Altnazis den Russen auszuliefern. Auch sein Schwur, nie wieder ein Gewehr zu tragen, paßte schon bald nicht mehr in die Zeit. Kaum zwei Jahre später fliegt er aus der Partei und dem Polizeidienst. Er klaut Eßbares aus russischen Lagern und verteilt es an hungernde Flüchtlinge. „Da ging das wieder bei den Kommunisten los“: Wieder wird er zur Untersuchung in eine Nervenheilanstalt gebracht. „Wer sich in dieser unmenschlichen Zeit so menschlich verhielt, der wurde wohl für verrückt gehalten“, meint Sonja Schlegel. 1960 muß Rudolf Lorenz vorübergehend ins Gefängnis, weil er sich mit einem Polizisten prügelte. Am 12.August 1961, einen Tage vor dem Mauerbau, flieht er aus der DDR in den Westen.

„Bis hierhin steht es mir“, sagt Rudolf Lorenz und zieht vor seiner Nase einen unsichtbaren Strich. Gemeint sind seine jahrelangen erfolglosen Bemühungen um Entschädigung. Nach der BEG-Rechtsprechung galt er nicht als Verfolgter, und mit seiner Rente und den Einkünften seiner Frau liegt Lorenz über den Einkommensgrenzen der diversen Härtefonds. Auch in Nordrhein-Westfalen dürfte er, wenn die Richtlinien unverändert bleiben, wieder leer ausgehen. Besonders ärgert ihn, daß die Rentenbehörde die Jahre der Inhaftierung bei den Nazis nicht als Ersatzzeiten anerkennt. Laut neuem Entschädigungsrentengesetz können nur diejenigen NS-Verfolgten aus den „Beitrittsgebieten“ Ansprüche anmelden, die nach 1969 aus der DDR geflohen waren. Davor galt ja das BEG.

„Ich will doch nicht betteln gehen“, sagt Rudolf Lorenz. Offenkundig deshalb hat er mit dem Thema Entschädigung abgeschlossen.

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