Von „Klette“ bis „Don Juan“

■ Die Hallenser Germanistin Ingrid Kühn interpretiert 4.500 IM-Decknamen: Routine, Zynismus und heimliche Sehnsucht

Wiesbaden (dpa) – Einige sahen sich ihrer Funktion gemäß als „Argus“, „Melder“ oder „Klette“ – die Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit der DDR, die sich ihre Tarn- oder Decknamen überwiegend selbst aussuchen durften. Aber auch eine Fülle anderer Beweggründe spielten bei der Namenswahl dieser „Agenten“ eine Rolle, die in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen oder beruflichen Bereich zur Beobachtung ihrer Mitbürger verpflichtet worden waren.

Das erhellt die Germanistikprofessorin Ingrid Kühn (Halle) in einer sprachwissenschaftlichen Untersuchung der Liste von 4.500 Stasi-IMs und ihrer Decknamen, die im vergangenen Sommer aus den Unterlagen der Bezirksverwaltung Halle der Staatssicherheit veröffentlicht worden war.

In einem Beitrag für den neuen Sprachdienst der Wiesbadener Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) schreibt Professor Kühn, die Decknamen seien seinerzeit in einem Benennungsakt vergeben worden; ihre Tarnbezeichnungen hätten die inoffiziellen Stasi-Mitarbeiter bei ihrer „Verpflichtungserklärung zum Zwecke der Konspiration“ erhalten. Der IM habe sich zur Kontaktaufnahme mit seinem Decknamen gemeldet und mit diesem Namen jeweils auch seine Berichte unterschrieben.

Bei der Namenswahl waren der Untersuchung zufolge die Motive zum Teil zweckbestimmt, auch um die Einordnung der IMs in ihr soziales Umfeld zu erleichtern. Es blieb jedoch die Möglichkeit, bei der Wahl Individualität walten zu lassen. Dies kam freilich bei jenem ziemlich großen Kreis von „Informellen Mitarbeitern“ etwas zu kurz, der seinen Decknamen in Anlehnung an den ausgeübten Beruf wählte, wie die Friseuse etwa, die als IM „Figaro“ tätig wurde. Nicht sehr originell auch die Wahl des Gegenwortes für den Familiennamen – aus dem DDR-Bürger Licht wurde der IM „Dunkel“. Wenig Phantasie auch bei der Vielzahl von IMs, die eine Kurzform ihres Vornamens mit einem angehängten „i“ zur Tarnung wählten, wie Addi aus Adelheid.

Einen gewissen Humor, so die Untersuchung Kühns, entwickelten einige IMs, wie ein Hauptbuchhalter, der unter dem Decknamen „Manko“ firmierte, ein Zahnarzt unter „Brücke“ oder der Leiter der Kreishygienestation als „Mikrobe“. Legion waren jene unter diesen „Klein-Agenten“, die sich Tiernamen erkoren hatten – von „Taube“ und „Meise“ über „Falter“ und „Biene“, „Hecht“ und „Löwe“ bis zu „Fuchs“. Eine symbolische Kraft erhofften sich nach Einschätzung der Untersuchung viele IMs mit sogenannten Nachbenennungen bei ihrem Decknamen wie „Einstein“, „Don Juan“, „Venus“ oder „Tannhäuser“. In ihrem Fach blieben dabei Ärzte („Hippokrates“, „Albert Schweitzer“, „Robert Koch“ und „Röntgen“) sowie Studenten und Wissenschaftler („Goethe“, „Schiller“, „Brecht“, „Ringelnatz“); ein Altertumswissenschaftler identifizierte sich als Informeller Mitarbeiter mit „Ramses“, ein Chorleiter wünschte den Namen „Beethoven“.

Sänger übten ihre Vorbildwirkung aus vor allem auf die IM- Jahrgänge 1940 bis 1960: Vor der Stasi sangen unter anderen „Roland Kaiser“, „Peter Maffay“, „Falco“ und „Prince“.

Typenbezeichnungen von Autos und Motorrädern blieben auf den DDR-typischen Fahrzeugpark beschränkt. Ob Führungsoffiziere restriktiv eingriffen, wenn Autofans verdeckten Wünschen in Decknamen Ausdruck geben wollten, ist laut Prof. Kühn schwer zu sagen. Jedenfalls sei es nur einem Kraftfahrer gelungen, unter dem Decknamen „Mercedes“ zu Werke zu fahren. Richard Schmidt