: Nebelbombengeschichte
■ „Bremerhaven in zwei Jahrhunderten, Band 3“: Geschichte daneben
1984 war für Bremerhaven ein ganz besonderes Jahr.Da wurden „die städtischen Tiergrotten in Zoo am Meer“ umbenannt. In dem „immer nach vorne orientierten“ Zoo gelang außerdem die „Erstzucht eines Baßtölpels“. Zwei Seiten ist das den Autoren des dritten Bandes von „Bremerhaven in zwei Jahrhunderten“ wert. Zwei von vier Seiten über das Jahr 1984. Daß es im Februar 16,3 Prozent Arbeitslose gab, ist auf eineinhalb Zeilen vermerkt.
Die Erinnerung verwischt die Spuren der Geschichte. Aber die Geschichte von 1948 bis 1991, die hier beschrieben werden sollte, ist den Bürgern der Stadt noch zu gut in Erinnerung, um sie nicht besser zu kennen. Eine Schar bemühter Hobby-Heimatkundler, die den Nachlaß des bekannten Heimatkundler Harry Gabcke verwurstelte, hat einen schönfärberischen Bilderbogen geschaffen, der mehr einer historischen Nebelbombe gleicht als einem Geschichtsbuch.
Mit geradezu pathologischer Schamlosigkeit vermeidet man jegliche Analyse. Geschichte vom Küchentisch, wobei das Quellenstudium wohl auf das Abschreiben der Lokalseiten der örtlichen Tageszeitung beschränkt blieb: Ohne irgendeinen Bezug wird dem Leser auf einer Seite plus zwei Fotos vorgegaukelt, im Jahr 1989 sei es wichtig gewesen, daß „ein neuer Stadtwald herangewachsen“ ist.
Kostproben Bremerhavener „Geschichte““: 1968 „Baumscheibe im Speckenbütteler Park“. 1972: „Wasserstandsanzeiger stillgelegt“. 1980: „Lili-Marleen-Laterne“. 1982: „Verdienstmedaille für zwei Zeitungsleute“. 1989: „Verdienstmedaille an Heinz-Günther Thees“. 1979: „Verdienstmedaille der Stadt Bremerhaven“. 1991: „Parktor erstrahlt im neuen Glanz“. 1955: „Das Stadtbad wird eröffnet“. 1986: „Das Stadtbad wird geschlossen.“
Die Bremerhavener Geschichte, so wird bei der Lektüre deutlich, besteht in erster Linie aus Jubiläen: „50 Jahre Schullandheim“. „250 Jahre Weserlotsen“. 50 Jahre Niederdeutsche Bühne“. „75 Jahre Paulskirche“. „125 Jahre städtische Sparkasse“. „Nordseezeitung 90 Jahre alt“.
So stellt man den heimatkundlichen Hausfreund auf verwurmte Krücken, um ihn unter der Maskerade eines Geschichtsbuches erscheinen zu lassen. Das Buch gibt die ohnehin nicht von urbanen Charisma verwöhnten Stadt der Lächerlichkeit preis. „Das Ende der Rickmers Werft“, eine immer noch nicht abgeschlossenene soziale Katastrophe von höchster Delikatesse als Randnotiz kleiner darzustellen als „Weserfähre wird gerammt“, das ist schon die hohe Schule der Verdummbeutelung. Eineinhalb Spalten sind den historisierenden Kleinkünstlern das Thema „Rechtsradikale im Stadtparlament“ wert, zwei Seiten dagegen „Leuchtturm Rotersand vor dem Verfall gerettet“.
So ähnlich sahen die Dorfchroniken aus, die ehemals von heimattümelnden Lehrern verfasst wurden. Wo man früher den Neubau des Spritzenhauses beschrieb, verbreitet man sich heute in Bremerhaven über die „Einweihung der zentralen Feuerwache“. Die Verlogenheit wird zwangsläufig, weil die Geschichte über die Wahrheit einer Epoche denen nichts enthüllt, die noch in ihr leben. Ob dieses Geschichtswerk nicht vielleicht gar ein Skandal ist, werden künftige Generationen beurteilen können.
So wursteln sich die Autoren durch ein Gebirge von Nebensächlichkeiten, aus dem sogar noch der Reiz des Anekdotischen herausgefiltert wurde: Hans Altermann, der bedeutendste Schandfleck auf der Bremerhavener Weste, wird verschämt verschwiegen. Geschichte, wie man sie gerne hätte und wie sie sich nicht einmal Lieschen Müller vorstellt.
Daß das Werk vielleicht nicht nur eine Veralberung, sondern eine Verhöhnung der Stadtgeschichte ist, läßt schon das Namensverzeichnis erahnen: Da werden Altbundeskanzler Helmut Schmidt und der in München lebende Chemiker Adolf Butenandt gleich sechsmal genannt und Bundespräsident Richard von Weizäcker immerhin zweimal, der unselige Baudezernent Heinz Korves, der 15 Jahre Bremerhavener Bau- und Abrißgeschichte auf dem Gewissen hat, nur einmal, und zwar lobend.
Das Rätsel „Bremerhaven“, von der Wissenschaft bislang nicht entschlüsselt, wirft mit diesem Buch einen weiteren Schleier des Mysteriums über sich. Der Rechtsanwalt Manfred Ernst, einer der Autoren, gewährt den Lesern allerdings den Trost einer sozialen Komponente: In warmen Worten dankt er „dem Setzer Jürgen Klinkebiel, der uns freundlich und einfühlsam mit seiner Handwerkskunst betreute.“ Lutz Wetzel
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