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Die fetten Jahre sind passé

Heute beginnen in Stuttgart die Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst/ ÖTV setzt auf kurze und unspektakuläre Tarifrunde/ Viel zu holen gibt es in diesem Jahr aber nicht  ■ Von Erwin Single

Berlin (taz) – Jedes Jahr beschert uns die neue Tarifrunde ein munteres Rätselraten für ökonomische Laien: Wer darf sich angesichts düsterer Konjunkturprognosen, aufgehäufter Schuldengebirge, schleichender Inflation und wachsender Arbeitsproduktivität am Ende die Hände reiben? Was dabei herauskommt, ist nicht nur für das soziale Klima von zentraler Bedeutung, möchte man meinen. Denn es geht um die Verteilung des erwirtschafteten Geldes. Und wenn, wie derzeit in Deutschland, die Wirtschaft schrumpft und alles unter den horrenden Einheitskosten stöhnt, sind nicht nur Regierung und Opposition, sondern auch die Tarifpartner schnell wieder dabei, das Hohelied der Sozialpartnerschaft anzustimmen. Was sich schon letztes Jahr andeutete, steht in der heute eingeläuteten Tarifrunde 1993 klar im Raum: Die Höhe der Lohnabschlüsse wird diesmal von der ökonomischen Wirklichkeit diktiert. Und da diese nicht gerade rosig aussieht, müssen sich die Arbeitnehmer auf magere Zeiten einstellen.

Wenn es nach dem Willen der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) geht, die wie im vergangenen Jahr die Vorreiterolle im Tarifreigen einnimmt, verläuft die diesjährige Lohnrunde für die 2,3 Millionen Beschäftigten bei Bund, Ländern und Gemeinden in Westdeutschland kurz und unspektakulär. Monika Wulf-Mathies appellierte an die öffentlichen Arbeitgeber, auf das seit Jahrzehnten eingefahrene Tarif-Ritual, die unterschiedlichen Positionen darzulegen und ausführlich zu begründen, diesmal zu verzichten und gleich beim ersten Treffen ein Angebot auf den Tisch zu legen. Die ÖTV, so die Chefin der zweitgrößten Einzelgewerkschaft, habe schließlich schon mit dem Ende November vorgelegten Forderungskatalog ihren Einigungswillen bekundet. Tatsächlich ist die ÖTV mit der relativ niedrigen Forderung von fünf Prozent mehr Lohn und Gehalt plus einer sozialen Komponente von monatlich 150 Mark für die unteren Einkommensgruppen schnell auf die veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eingeschwenkt. Bei schrupfendem Wachstum und einer prognostizierten Inflationsrate von 3,5 bis vier Prozent, so das interne ÖTV-Motto, müsse jetzt voll auf Reallohnsicherung gesetzt werden.

Daß in der Verteilungsrunde 1993 wohl auch nicht mehr zu holen sein wird, dürfte den ÖTV-Tarifexperten von vornherein klar gewesen sein. Das Trauma nach dem Streik des letzten Frühjahrs sitzt den Gewerkschaftern noch tief im Nacken. Elf Tage lang hatten Müllmänner, BriefträgerInnen, Krankenschwestern und Standesbeamte keinen Finger gerührt, um sich am Ende mit Lohnerhöhungen von 5,4 Prozent zufrieden geben zu müssen – und damit genau mit dem Volumen, das zuvor als Kompromiß vom Schlichter vorgeschlagen wurde. Die ÖTV-Leitung konnte sich zwar zugute halten, ein Tarifdiktat des Bundeskanzlers gebrochen zu haben. Mit dem mageren Ergebnis aber wollte sich die Basis nicht zufriedengeben und lehnte den Tarifabschluß erst einmal per Urabstimmung ab. Wo hohe Erwartungen geweckt werden, können Enttäuschungen nicht ausbleiben. Die Quittung folgte dann auf dem Nürnberger Gewerkschaftstag: Reuemütig gestand eine düpierte ÖTV-Chefin ein, daß das Geld für steigende Personalausgaben beim Staat und für den Aufschwung Ost nicht vom Himmel fielen und deshalb im Westen nicht alles so weiterwachsen könne wie bisher.

Nach Nürnberg, hatte Wulf- Mathies' Stellvertreter Wolfgang Warburg verprochen, werde die Gewerkschaft eine andere sein als zuvor. „Konflikte müssen aufrütteln; sie zwingen uns zur Verständigung und zum Handeln.“ Man könnte meinen, die ÖTV habe diese Mahnung allzu ernst genommen. Zwar hätte es die ÖTV- Spitze gerne gesehen, gleichzeitig mit den Lohnerhöhungen eine weitere Arbeitszeitverkürzung zu erzielen, doch die ohnehin murrende Gewerkschaftsbasis verlangte nach einer Geldrunde. So soll die Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit zwar ausgehandelt werden, jedoch erst ab 1994 stufenweise in Kraft treten. Die von der Bundesregierung propagierte Begrenzung des Lohnzuwachses auf drei Prozent wollen die ÖTVler aber auf keinen Fall hinnehmen. Doch mit dem Forderungspaket dürfte die Einigungslinie bereits aufgezeigt sein: Mehr als eine drei vor dem Komma wird wohl nicht herausspringen; Verhandlungsmasse dürfte in erster Linie die ausdrücklich offen gelassene Ausgestaltung der sozialen Komponenten bieten: Von Verbesserungen bei Orts- oder Kinderzuschlägen über einen Mindest- oder Sockelbetrag bis hin zu vermögenswirksamen Leistungen will die ÖTV über alles mit sich reden lassen.

Auch wenn die Arbeitgeber die ÖTV-Forderung bereits als „völlig überzogen“ zurückgewiesen und vorgerechnet haben, daß damit auf die öffentlichen Haushalte eine Mehrbelastung von rund 21 Milliarden Mark zukommen würde – an einer schnellen Runde sind auch sie interessiert. Seit Monaten wird in Bonn zwischen Regierung und Opposition, zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern um einen Solidarpakt zum Aufbau Ost gerungen. Daß ein solches Bündnis nicht ohne die ohnehin bereits mit hohen Einheitslasten bepackte Arbeitnehmerschaft zu machen ist, hat sich auch in der Regierung herumgesprochen. Das Zugeständnis der Bundesregierung, die industriellen Kerne in Ostdeutschland mit weitgehenden Beschäftigungsgarantien zu erhalten und den Staat zur Industriezentrale zu machen, haben sich die Gewerkschaften mit einer Zurückhaltung ihrerseit in der jetzigen Tarifrunde schon abhandeln lassen. Auf dem Gewerkschaftstag der IG Metall im Oktober warb deren Vorsitzender Franz Steinkühler für eine Beteiligung der Gewerkschaften an dem Solidarpakt; die Einzelheiten über die bevorstehenden Grausamkeiten verschwieg er jedoch lieber. Zu welchen Eingeständnissen nicht nur die IG-Metall-Spitze unter dem Druck der herrschenden Verhältnisse offenbar bereit ist, konnten die interessierten Mitglieder in der britischen Tageszeitung Financial Times nachlesen: Da erzählte Steinkühler, was er der Regierung anzubieten hatte – nämlich für fünf Jahre auf Netto- Reallohnerhöhungen zu verzichten und den darüber hinaus gehenden Produktivitätszuwachs als höhere Transferleistung in den deindustrialisierten Osten fließen zu lassen. Die IG Metall ist in der jetzigen Tarifrunde jedoch fein raus: Sie hat ihre Zugeständnisse an die ökonomische Lage bereits im letzten Jahr unter Dach und Fach gebracht und in einem über zwei Jahre laufenden Tarifvertrag Lohn- und Einkommensverbesserungen ab April 1993 von drei Prozent festgeschrieben. Doch damit ist es auch für sie nicht getan: Sie müssen sich mit den Metall-Arbeitgebern zu Revisionsverhandlungen über die Ost-Tarife zusammensetzen, die laut Tarifvertrag auf 82 Prozent angehoben werden sollten. Die Arbeitgeber sperren sich dagegen, da Lohnentwicklung und Produktivität in den Ost-Betrieben immer weiter auseinanderlaufen. Aber auch ein Tarifabschluß im öffentlichen Dienst für den Westen wird sich auf die 1,1 Millionen Staatsbediensteten im Osten auswirken. Für sie gelten als Bemessungsgrundlage jeweils die aktuellen Lohn- und Vergütungstarife West – und zwar mit einem 25prozentigen Abschlag.

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