: Letzter Halt vor dem Absturz
■ Ein Gartenbauingenieur pflegt als ABMler die Gräber berühmter Berufskollegen auf einem Potsdamer Friedhof
Potsdam (taz) – Manfred Kaule hat aus wilden Stauden Zierpflanzen gezüchtet. Jetzt ordnet er Efeu. Daß er dies auf den Gräbern berühmter Kollegen tut, tröstet den Gartenbauingenieur nur im Sommer. Dann führt Kaule BesucherInnen des Bornstedter Friedhofs in Potsdam zum Grab jenes Peter Joseph Lenne, der den Park von Sanssouci anlegte oder an die Ruhestätten der zahlreichen Sellos, ebenfalls Gärtner im Dienste Friedrichs. Den TouristInnen widmet sich Kaule freiwillig, dem Efeu und allem zu DDR-Zeiten friedlich gediehenen Wildwuchs rückt er im Rahmen der nachsozialistischen Arbeitsbeschaffung zu Leibe. „Ich räume hier auf“, sagt Kaule, und das klingt wie: „Manchmal möcht' ich auch tot sein.“
Ohne die Arbeitsbeschaffung säße Kaule zu Hause. Dank der Maßnahme sitzt der deklassierte Zierpflanzenexperte nun mit den KollegInnen im geheizten Kabuff an der rückwärtigen Seite der Friedhofskapelle und wärmt sich an Kaffee. Durch die Wand dringt Orgelspiel. Eine Trauergemeinde verabschiedet sich mit Weihnachtsliedern von ihrem Verstorbenen. Der schwere Lehmboden draußen ist dreißig Zentimeter tief gefroren. Für neue Gräber muß die Erde mit dem Meißel aufgestemmt werden.
Auch Manfred Kaules Mimik wirkt wie endgültig eingefroren. Anderthalb ABM-Jahre hat er hinter sich, noch ein halbes vor sich – und dann? Zweifellos sind ihm selbst die „primitiven Arbeiten“ auf dem Friedhof ans Herz gewachsen – und sei es aus Angst vor dem Ende. Überall hat er sich schon als Gartenbauingenieur beworben. Seine Frau ergatterte eine Stelle im Landwirtschaftsministerium. „Wie soll ich da zu Hause noch was sagen? Schließlich verdient sie dann das Geld...“ Noch hat Kaule als ABMler soviel Lohn wie zuvor im VEB Karl Förster, wo er zwanzig Jahre lang Stauden zog. Jetzt sind die ZüchterInnen abgeschafft, nur zwei Leute sortieren die Reste. Westdeutsche Geschäftsführer ritten den einstigen Pflanzenzucht-VEB gleich zweimal in die Pleite. 140 Leute verloren ihre Arbeit. Kaules Frau bekam im Dezember zum letzten Mal Lohn: den vom August.
„Manches läuft nicht gut“, sagt Manfred Kaule. Die ruhige Art des 46jährigen ist umgeschlagen in Müdigkeit. Der zierliche Mann mit den blassen, verhangenen Augen gehört zu denen, die sorgfältig und bescheiden ihre Arbeit gemacht haben, die Anweisungen erhielten, die sich wegduckten, wenn's dicke kam, um sich am Vertrauten wieder aufzurichten: an den KollegInnen, der Familie, dem eigenen Garten, den Blumen. Das eine ist weg, das andere deshalb bedroht. Die letzte Betriebsversammlung im VEB – das Ende – war für Kaule „wie wenn die Kollegen in den Wind verstreut würden“.
Die ABM auf dem Bornstedter Friedhof (die Stadt Potsdam beschäftigt 1993 noch etwa 300 Menschen über ABM – gegenüber fast 900 im Jahr 1992) ist kein neuer Start, nur letzter Halt. Wie Kaule ergeht es 85 Prozent aller ABMlerInnen in der brandenburgischen Landeshauptstadt. Als der Gartenbauingenieur anfing, Efeu zu ordnen, hieß es noch, er würde übernommen. Soll es ihm, dem 46jährigen, denn jetzt ergehen wie dem VEB-Kollegen, der Frührentner werden mußte? Der kommt inzwischen jeden Tag zu den Gräbern der glücklicheren Gärtner nach Bornstedt, harkt hier, rupft dort und steht allzeit bereit, obwohl er nur 32 Mark die Woche zu seiner Rente hinzuverdienen darf: „Zu Hause fällt einem doch die Decke auf den Kopf, wenn man nicht arbeiten darf“, sagt er. Und Kaule nickt. Bettina Markmeyer
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