: Frische Gemäßigtheit
■ Philharmonie mit Jan Müller-Wieland und Alfred Schnittke
und Alfred Schnittke
Gerd Albrechts Vorliebe für das pädagogische Dirigat ließ ihn gleich zu Beginn des 6. Philharmonischen Konzertes am Sonntag morgen in der Musikhalle in ein selbstausgelegtes Fettnäpfchen treten, das ein lautes Buhgeräusch von sich gab. Um sich und seine ambitioniert zeitgenössische Programmauswahl vor dem anwesenden Abonnementspublikum zu rechtfertigen, beschrieb er deren Kluft zu Neuem: Abonennten, so Albrecht, hingen am „Althergewohnten“ und würden dazu tendieren, sich wie Fafner im Siegfried zu gebärden, der dort sage: „Hier sitze ich, ich besitze, laß mich schlafen.“ Der anschließende Versuch, diese offensichtliche Beleidigung, die natürlich der Wahrheit entspricht, in Komplimente und Geschmacksbildung umzubiegen, fand im empörten Gezischel kaum noch Gehör.
Versöhnlich stimmte den „Klassik-Mob“ dann das anschließende, mit so schweren Vorwarnungen belastete Werk. Statt kreischender Dissonanz, wie wahrscheinlich befürchtet, verwandte der junge Hamburger Komponist Jan Müller- Wieland bei seinem hier uraufgeführten Werk Poem des Morgens ein wohl austariertes Pendel zwischen impressionistischen Klangmalereien und rhythmischer Gewalt, das in seiner frischen Gemäßigtheit weit besser für die Sache der Innovation sprach, als Albrechts Prolog.
Müller-Wieland, ein Henze- Schüler, der von diesem die Idee des „imaginären Musiktheaters“ übernommen hat, versucht mit seiner Musik stark bildlich zu wirken, und das gelingt ihm mit erstaunlicher Sicherheit. In diesem Fall legte er Rimbauds berühmtes Gedicht „Das trunkene Schiff“ seiner Komposition zugrunde und gestaltete ein starkes Wasser-Motiv (das sich allerdings mehr auf das Bildliche, als das Sinnbildlichen der Verse bezieht). Mal ist es Plätschern, dann Sturm, mal Nebel, dann Matrosenlust, deren spezifische Empfindungen er in kurzen Sequenzen einfängt. Im steten Wechsel von dominierenden Streichern und Schlaginstrumenten strukturiert er sein Poem mit großem dynamischen Geschick und findet eine Tonsprache, die dissonante Momente spannungsreich mit harmonischen Teppichen verwebt.
Schnelle Tempi- und Stimmungswechsel, der prägnante Einsatz von untypischen Instrumenten wie Mundharmonika und der Streit zwischen brachialer Polyrhythmik und melancholischen Schmachtpassagen verleiht der Komposition eine Bewegtheit, die, trotz deutlich erkennbarer Einflüsse, auf das Reifen einer außergewöhnlichen Komponisten-Persönlichkeit hoffen läßt.
Alfred Schnittkes depressiv-manischer Monolog für Viola und Streichorchester, der anläßlich der Bachpreisverleihung an ihn und Müller- Wieland kurzfristig ins Programm genommen worden war, gefiel dann dank der leidenschaftlichen Interpretation von Tabea Zimmermann auch jenem erklecklichen Haufen, der vorher den sich krampfhaft am Dirigentenabsperrgitter festhaltenden Müller-Wieland ausgebuht hatte. Nach der Pause folgte dann Tschaikowskys 5. Symphonie mit Rutschern und Ausrutschern im Stil der Philharmonie. Till Briegleb
Wiederholung, heute 20 Uhr, mit Bachpreisverleihung
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen