: Betteln gehört zur Kultur der Roma
■ Soziologe György Szabo arbeitet zu Roma / taz-Gespräch über Gesetzesinitiative
taz: In Bremen soll Betteln mit Kindern, wie Roma es betreiben, verboten werden.
Dr. György Szabo: Diese bürokratische Herangehensweise ist für mich aus mehreren Gründen scheinheilig. Wenn man sich bewußt machen würde, unter welchen unmenschlichen Verhältnissen Roma in Osteuropa leben, dann würde man sich über diese Form der ökonomischen Reproduktion überhaupt nicht wundern. In Rumänien wurden Roma erst 1856 aus der Sklaverei entlassen. Zweitens wird hier unter sozialpsychologischen Aspekten möglicherweise ein schlechtes Gewissen mobilisiert und beruhigt.
Warum verlassen Roma ihre Herkunfts-Länder?
Die Roma leiden vielleicht am allermeisten unter den Problemen in Osteuropa, weil sie jahrhundertelang nicht in die Gesellschaften integriert werden konnten. Wanderungsbewegungen dienten und dienen natürlich dazu, bessere Lebensverhältnisse zu erreichen.
Welche Rolle spielen denn Kinder bei den Roma?
Kinder haben einen sehr hohen Stellenwert in der Reproduktion von Großfamilien. Die Roma waren im Prinzip immer nur auf der Großfamilienebene organisiert. Da spielt das Familienoberhaupt eine Rolle. Mit dieser Organisationsform haben sie über die Jahrhunderte in einer ihnen feindlichen Gesellschaft am ehesten überleben können. Größere Vereinigungen bis hin zur Nation gab es bei ihnen nicht.
Nichtintegration bedeutet in der Regel: Analphabetismus, Ausgegrenztsein aus dem Arbeitsmarkt, Nichtteilhaben an gesellschaftlichen Prozessen. Da spielen Kinder eine große Rolle: weil sie durch Schaustellerei, Bettelei usw. ihren Teil beitragen.
Betteln ist eine traditionelle „Erwerbstätigkeit“ der Roma?
Ja. Wir wollen ja nicht moralisieren. Ob es wünschenswert ist, ist eine andere Frage.
Und dazu werden Kinder „benutzt“?
Das könnte man so formulieren. In der Regel war die Bettelei Aufgabe der Frauen. Was soll eine Mutter in dieser Zeit mit ihrem Baby machen? Sie trägt es also normalerweise auf dem Arm, stillt es auch in der Öffentlichkeit. Sie kann es doch nicht in den Kindergarten schicken, während sie zum Betteln geht.
Von denjenigen, die initiativ geworden sind, wird behauptet, daß die Kinder ruhiggestellt werden — durch Medikamente oder Drogen. Mit dem Argument, man brauche sich die Kinder nur anzuschauen — so ruhig verhalte sich kein Kind über eine so lange Zeit.
Diese These halte ich für völlig abwegig. Meines wissens gibt es, gerade unter traditionellen Roma, Drogenmißbrauch überhaupt nicht. Es ist eher so, daß das Baby oder Kleinkind den ganzen Tag mitbekommt, was im Laufe dieser Bettelei passiert, dies irgendwie verarbeitet und schließlich später selbst als legitimes Mittel zum Gelderwerb ansieht.
Es wird auch behauptet, die Familien hätten es gar nicht nötig, zu betteln, das soziale Netz würde sie auffangen?
Sozialhilfe bedeutet Armut. Die Bevölkerung der BRD ist an diese harte Äußerung von Armut nicht gewöhnt.
Wie könnte man da ansetzen?
Nicht nur an diesem Beispiel wird klar, daß unsere Wertordnung ins Wanken geraten ist. Es müßte eine immanente Form der Integration von Einwanderern gefunden werden, die nicht nur eine materielle Besserstellung zum Ziel hat, sondern auch in Ausbildung und Berufsleben bessere Integrationschancen bietet
Wohlmeinende Leute wollen Sozialarbeiter zu den bettelnden Leuten schicken, um zu sehen, wo und wie zu helfen ist?
Es ist schwer, mit solch isolierten Maßnahmen dem Problem beizukommen. Ich bin selbst Immigrant und kann retrospektiv nur sagen: man sollte den Menschen dort helfen, wo sie Probleme in ihrem Land haben. Es ist eine internationale Aufgabe, diese Minderheiten zu schützen, mit konkreten, kontrollierbaren Schritten, nicht mit einer Buchstabensuppe. Eine Völkerwanderung wie im Mittelalter ist für niemanden wünschenswert — auch nicht für diejenigen, die sich auf den Treck begeben.
Fragen: Birgitt Rambalski
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