: Hasenfutter gegen Diabetes
■ Tofu und Grünkern als revolutionäre Akte in der bürgerlichen Küche
Es gab Zeiten, da lehnte der Herr des Hauses jedes vegetarische Gericht mit dem Kommentar ab, er esse kein Hasenfutter. Damals lag Reis als exotisches Lebensmittel für ihn am Rande der Zumutbarkeit. Lieber aß er zu seinem Fleisch Kartoffeln in allen traditionsreichen Variationen, Nudeln und vor allem Knödel, Knödel, Knödel. Besorgt um den Frieden am heimischen Herd, verzichtete die Hausfrau auf riskante Veränderungen der gewohnten Kost. Manche Gastronomie-Mode ging spurlos an der Familie vorüber.
Wie er älter wurde und seine Diabetes zunahm, ging der Hausherr auf Kur. Der Speiseplan des Sanatoriums versprach eine schwere Zeit. Nie gehörte Gemüsekombinationen reihten sich Tag für Tag aneinander, ergänzt von Trinkbrühe und Salaten. Gleichzeitig fehlten die für unverzichtbar gehaltenen Klassiker Schnitzel und Braten. „Das ess' ich nie!“ stieß der Hausherr aus und fuhr nach Bad Kissingen zur Kur. Eine Revolution sagte sich an.
Sie setze sich binnen zweier Wochen durch. Zwischenberichte aus dem Sanatorium vermeldeten den Verzicht auf Fleisch und Diabetesmedikamente sowie erste Gewichtsverluste. Begeistert beobachtete der Herr des Hauses, wie sich sein Körper unter dem Einfluß der Vollwerternährung veränderte und ein gesünderes Lebensgefühl einzog. Er schwenkte unerwartet widerstandslos, gar euphorisch, auf die neue Art des Essens um.
Doch die Revolution mußte ein zweites Mal stattfinden. Zu Hause war der Ausnahmezustand in den Alltag zu überführen. Die Hausfrau fürchtete sich vor der Rückkehr des Kurhelden und den unbekannten Rezepten. Es hing von ihr ab, ob seine Pillen endgültig der Vergangenheit angehörten. Was sollte sie ihm kochen, wenn tierisches Eiweiß, Fleisch und Zucker sowieso verboten waren? Grünkern und Tofu zogen mit zehnjähriger Verspätung in die bürgerliche Küche ein. Das vor Jahren geschenkte, unbeachtete Vollwertkochbuch fand endlich Verwendung. Für das Morgenmüsli füllte die Hausfrau ein halbes Dutzend säuberlich beschrifteter Gläser mit verschiedenen Körnern, die in alten Zeiten höchstens für die Hühner durchgegangen wären. In apothekenhaft kleinen Portionen mischte und mahlte sie Getreide.
Hinter seinem Rücken briet sich die Hausfrau ab und an ein Stück Fleisch. Äpfel im Schlafrock nach Großmutters Rezept backte sie zur Sicherheit halb mit weißem Mehl. Der Sündenfall ließ nicht lange auf sich warten: Am 33. Hochzeitstag, einen Monat nach dem Ende der Kur, genehmigten sich Hausfrau und Hausherr gemeinsam ein Stück Schokosahnetorte. Ein Akt der Reaktion? Ruth Singer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen