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„Außer der Sozialhilfe bleibt nicht mehr viel übrig“

■ Interview mit Marjorie Innes, Verkäuferin aus Lerwick auf den Shetlandinseln

taz: Vor zehn Tagen ist der US- Tanker „Braer“ mit 84.500 Tonnen Rohöl an Bord vor der Südküste der Inseln zerschellt. Ist dies das Ende der Shetlands?

Marjorie Innes: Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Noch im vergangenen Sommer war ich fast täglich in der Quendale-Bucht schwimmen. Als wir im Radio hörten, daß der Tanker auf die Bucht zutrieb, sind wir trotz des Sturms zu den Klippen gegangen. Es war ein Gefühl der Hilflosigkeit und Verzweiflung – als ob ein Verwandter langsam vor deinen Augen stirbt. Ja, ich fürchte, das ist das Ende der Shetlands. Es wird nie mehr so sein, wie vor dem Unglück.

Vor 20 Jahren wurde das größte Ölterminal Europas bei Sullom Voe im Norden der Hauptinsel eröffnet. Die Shetlands haben finanziell davon profitiert. Mußte man bei dem regen Verkehr von und nach Sullom Voe nicht damit rechnen, daß es eines Tages schiefgehen würde?

Okay, wir haben davon profitiert. Es gab Jobs, und die Schiffsbesatzungen und Arbeitskräfte aus anderen Landesteilen haben hier ihr Geld ausgegeben. Viele von uns, die sonst hätten auswandern müssen, konnten deshalb hierbleiben. Doch nun hat das Öl uns ruiniert. Uns wurde weisgemacht, daß wir über das modernste Sicherheitssystem Europas verfügen. Doch was nützt das, wenn die Katastrophe am anderen Ende der Insel zuschlägt? Es soll nun eine öffentliche Untersuchung geben, aber damit läßt sich nichts rückgängig machen. Das ist der Fluch des Öls.

Hätte die Katastrophe vermieden werden können?

Natürlich hätte sie vermieden werden können. Ganz abgesehen von Billig-Flaggen-Ländern, schlecht ausgebildeten Mannschaften und alten Schiffen – Öltanker haben in dieser schmalen Meeresstraße sowieso nichts zu suchen, das sagen die Einwohner schon seit Jahren. Doch die Regierung hat sich der Ölindustrie gebeugt. Aber wenn man schon die Schiffe hier durchfahren läßt, hätte man wenigstens Radarsysteme installieren müssen, wie es die Gewerkschaft der Seeleute seit zwei Jahren fordert. Dann hätte die Küstenwache nämlich sofort feststellen können, daß die „Braer“ Probleme hatte. In der Straße von Dover, die genauso breit ist, sind Radarsysteme eine Selbstverständlichkeit. Aber das ist eben Südengland, und hier sind die Shetlandinseln. Die sind den Herrschaften im Unterhaus völlig schnuppe – und vermutlich auch der englischen Bevölkerung. Die ist mehr an billigen Produkten interessiert als an Sicherheit bei der Schiffahrt, wenn sie dafür was lockermachen müßte.

Wie geht es hier weiter?

Wir müssen damit leben. Umwelt, Tourismus, Ackerbau, Vieh- und Lachszucht sind am Ende. Da bleibt außer der Sozialhilfe nicht mehr viel übrig. Sicher, einige Einwohner werden von der Katastrophe profitieren und sich mit den Aufräumarbeiten eine goldene Nase verdienen. Ich habe Angst, daß dadurch die intakte Gemeinschaft auf der Insel zerstört wird. Außerhalb Shetlands ist man bereits zur Tagesordnung übergegangen, bis irgendwo das nächste Unglück passiert. Denn die Frage ist nicht, ob es passiert, sondern wann. Interview: Ralf Sotscheck

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