: Gibt es ein Leben vor dem Tode?
In Sarajevo harren 350.000 Menschen aus. Seit neun Monaten belagert, leben sie bei klirrender Kälte, bei Mangel an Wasser und Nahrungsmitteln oft in schrecklichen Behausungen. Ein Teil der humanitären Hilfe geht an die Milizen ■ Von Rupert Neudeck
Klirrende Kälte hat sich nachts in der Gegend um Kiseljak, Fojnica, Ilidza eingenistet. Sarajevo liegt nur 35 Kilometer von hier entfernt jeden Tag unter Beschuß. Doch die kleine Stadt Kiseljak bietet das ungewöhnliche Bild normalen Alltags, von ordentlichen Büro- und Geschäftsstunden.
Wir melden uns noch am späten Abend im Hotel in Kiseljak an und sprechen dort mit Oberst Hansen, einem der 143 dänischen Soldaten der UNPROFOR, der UNO- Schutztruppe, zu der Dänemark in Kroatien und Bosnien insgesamt mehr als 1.100 Soldaten beigesteuert hat. Hansen klärt uns auf: Wir müssen noch einen Schrieb an den serbischen Verbindungsoffizier im PTT-Gebäude von Sarajevo fertigmachen, mit unseren Paßnummern und den Nummern der beiden Autos, der muß das an insgesamt vier serbische road-blocks geben, damit die morgen früh Bescheid wissen.
Am nächsten Morgen, es ist der 4. Januar, stehen dampfend in der polarklaren kalten Morgenstunde zwei gepanzerte Fahrzeuge mit dänischer UNPROFOR-Besatzung. Ein dick eingepackter Unteroffizier teilt uns mit, daß wir die Fahrt in unseren beiden Wagen im Schlepptau der UNPROFOR aus eigenem Risiko unternehmen. „Wenn euch die Serben aus den Autos herausholen, können wir nichts machen. Das Fax war in der Nacht eingefroren, das Papier ist nicht zum PTT-Building durchgegangen, die Serben wissen nicht von euch.“ Und wenn sie wüßten? Am 8.Januar – nur vier Tage später – wird auf der gleichen Strecke ein Konvoi um 18.30 Uhr angehalten, ganze zwei Stunden dauert die erpresserische Situation, am Ende wird der bosnische Vizepräsident Hakija Turajlić siebenmal über die Schulter des französischen Obersten Sartre getroffen. Eine Kugel trifft den Kopf, eine andere die Brust, Turajlić ist tot.
Sarajevo unter Granaten und Schnee. Die Kälte ist das Furchtbarste, zumal es an Heizmaterial und Nahrung mangelt. Wir sind in einer Gewerbeschule, wohin uns ein Wagen einer neuen Hilfsorganisation gebracht hat: „Kruh Svt Ante“, „Antoniusbrot“, eine Organisation der bosnischen (katholischen) Franziskaner. Dort werden über 400 Flüchtlingshaushalte versorgt, Menschen, die aus Pale oder noch weiter nördlich vertrieben wurden, weil dort die Serben mit niemandem außer mit sich selbst leben wollen. Jeder in der langen Schlange bekommt einmal täglich etwas in den Henkelmann: vier Protein-Kekse zum Frühstück, zu Mittag eine große Schöpfkelle dünner Tomaten-Reis-Suppe, die aber wenigstens heiß ist, plus trockenes Brot. Sechzehn Akademiker, sagt die Chefin stolz, seien jetzt auch auf ihrer Liste. Sie führt uns dann in den Keller des Nebengebäudes, in ihren winzigen Laden.
Es wird furchtbarer, je tiefer wir in den Keller hinabsteigen: In einem naßkalten, stinkenden, angefrorenen Rattenloch vegetieren Menschen, nein, sie leben nicht, sie versuchen ihre körperlichen Funktionen über den Winter aufrechtzuerhalten. Mann, Frau, zwei kleine Kinder mit blau angelaufenen Backen, verrotzten Nasen, eingepackt in alles, was diese Familie noch hat, nicht mal eine Kerze gibt es in diesem Eiskeller voller Dreck, Nässe, die an den Wänden angefroren ist. Ich schäme mich meiner warmen Klamotten und der Gewißheit, hier morgen wieder weg und aus Sarajevo heraus zu sein.
Taslidza Mirjana ist hochschwanger, sie ist vergewaltigt worden, das Kind ist Produkt der Mißhandlung. „Dann mußt du das Kind erwürgen!“ brüllt die Suppenküchen-Chefin von hinten wie ein Flintenweib. Die Frau vor uns schüttelt den Kopf, auch ihr Mann, Gott sei Dank jung und noch stark. Sie will das Kind austragen. Der Mann schreibt eine Hamburger Telefonnummer auf, 040-5703085, seine Schwester sei unter dieser Nummer zu erreichen. Die Verwandten aber sind offenbar längst woanders. Wir haben die Nachrichten den Angehörigen nicht weitergeben können.
Im nächsten Kellerraum hausen sieben Kinder und drei Alte. Ein Mann mit hochgeschlagenem Mantelkragen, das Gesicht fahl, eingefallen, hält seinen Henkelmann mit der Suppe und ein Stück trockenen Brotes. Er brüllt: „Unter Tito war das alles besser. Da gab es Einigkeit und Solidarität. Unter Tito hätten wir eine solche Scheiße nie gehabt!“ Er brüllt weiter...
Die Versorgung läuft besser und dennoch schlecht. Besser: Die UNPROFOR bekommt jetzt – wenn sie will – jeden Tag einen kleinen Konvoi durch. General Morillon sagt uns später, daß sich die Bedingungen für den Transport von Hilfslieferungen inzwischen verbessert hätten. Aber die Mafien, die Kriegsgewinnler spielen nun eine um so furchtbarere Rolle. Die Regierung von Bosnien-Herzegowina mit Sitz im belagerten Sarajevo kann gegen sie wenig ausrichten.
Es gibt kein funktionierendes allgemeines Versorgungssystem. Alles läuft mit VitaminB und nach exklusiver Gruppenversorgung. Die muslimische Organisation „Merhamet“ sorgt nur für Muslime. Jeder hat eine Karte, die zum Bezug einer bestimmten Menge Reis, Bohnen, Mehl, Tee, Seife, Brennholz berechtigt. Doch jeder muß sich selbst darum kümmern. Wehe dem, der sich morgens nicht mehr aus den eigenen vier Wänden bewegen kann. Der wird in den nächsten Tagen erfrieren. Es kommt, wie General Morillon bestätigt, mittlerweile viel über den UNHCR in Sarajevo an, aber vieles geht gleich an die Armee, die Milizen und an Mafien.
Die Mehrzahl der Menschen, die wie in unendlichen Gänsemärschen an Häuserwänden und auf Nebenstraßen, wegen der Scharfschützen, vorbeihuschen, einen Schlitten oder einen Wasserkanister in der Hand, sehen fahl aus, mit wenig Bewegung. Gibt es ein Leben vor dem Tode? Ja, ich habe es in Sarajevo gesehen.
Der Limburger Bischof Franz Kamphaus ist gerade in der Stadt und macht sich auf, seinen Kollegen Msgr. Vinco Pulić, Erzbischof von Sarajevo, zu besuchen. Es schwant ihm Unerträgliches. Wird es ein typisches frugales bischöfliches Mittagsmahl geben? Als wir uns am späten Nachmittag wiedertreffen, ist er beruhigt: Der Erzbischof ist okay, er ißt auch nur die wäßrige Tomatensuppe mit Brot. Vinco Pulić ist im Gegensatz zum serbisch-orthodoxen Patriarchen und dem Imam der Muslime die ganze Zeit in Sarajevo geblieben.
Beim Empfang der Regierung mit dem Vizepräsidenten Ganić, dem kroatischen Minister Miro Lasić und einigen weiteren, zum Teil sehr jungen Ministern wird mir vieles deutlich, was ich vorher nur geahnt hatte. Das Protokoll ersetzt hier einiges. Der Kroate Lasić schimpft beim Empfang im Spiegelsaal über den muslimischen Partner. Die Spitze der bosnischen Polizei ist zum Teil tatsächlich mit entlassenen Häftlingen besetzt. Yusuf Prazina alias „Yuka“, die Nummer drei der bosnischen Armee, befehligt heute eine schwarz uniformierte Sondertruppe. Früher war er ein stadtbekannter Räuber. Jetzt ist er ein Held. Es ist unter einem General „Yuka“ gut möglich, daß da auch Exekutionen, auch Vergewaltigungen stattfinden. Es gibt viele Gerüchte und wenig Sicherheiten.
Wir sitzen im Spiegelsaal, in dem drei Tage zuvor Generalsekretär Butros Ghali gesessen hat. Der Saal sieht erbärmlicher aus als im Fernsehen. Ein elektrischer Heizofen, gespeist von einem der wenigen Generatoren in Sarajevo, mindert kaum die beißende Kälte, die die Minister, darunter die serbische Gesundheitsministerin, schon wegen der TV-Kamera tapfer aushalten. Wir besprechen den Ausflug von 300 Schwerverletzten aus Sarajevo. Der Kulturminister, der gepflegt englisch spricht, sagt mir die Liste mit den 300 Personen für Freitag, den 8.Januar 1993 zu. Ich glaube ihm kein Wort. Am Freitag läuft in der Zentrale von „Cap Anamur“ das Fax ein: eine Liste mit den Namen von 300 Schwerstverletzten.
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