Nicht auf die Profis hören

■ „Big Issue“, eine Obdachlosenzeitung aus London, hat eine Auflage von 125.000

London (taz) – Der Verleger mit dem silbergrauen Haar und dem zynischen Blick empfängt seinen Besucher im aufgeknöpften schwarzen Hemd und mit den direkten Worten: „Verzeihen Sie, wenn ich während unseres Gesprächs einschlafe.“ Mit der Selbstgedrehten sitzt er in einem heillosen Durcheinander von Postern, Kartons und Papierstapeln. Sein Büro befindet sich im von der Rezession gezeichneten London, wo rund 114.000 Menschen kein Dach über dem Kopf haben. Einst zählte auch der Verleger zu den Obdachlosen. Mit seiner ungewöhnlichen Zeitung kann er ihnen heute Hilfe zur Selbsthilfe anbieten. John Bird verlegt das Magazin Big Issue, ein Blatt von Obdachlosen für Obdachlose und andere. Das Projekt, das er vor anderthalb Jahren ins Leben rief, hat sich inzwischen in Britannien etabliert. Demnächst will Bird ihm auch in Deutschland Starthilfe geben.

„Helfen Sie den Obdachlosen, indem Sie eine angenehme Lektüre genießen“ oder „Big Issue, 50p oder ich hab' nichts zum Tee“ – die ZeitungsverkäuferInnen, die diese gewitzten und doch so einfachen, weil ehrlichen Werbeslogans erfinden, gehören inzwischen an jeder U-Bahn-Station, jedem Bahnhof, jeder größeren Kreuzung zum Stadtbild von London. Aber auch in Brighton und seit Jahresbeginn in Manchester hat sich Big Issue inzwischen etabliert. Das Engagement der ZeitungsverkäuferInnen rührt nicht zuletzt vom eigenen Gewinn an jedem verkauften Blatt. Was sie für umgerechnet zirka 25 Pfennig im Zentraldepot kaufen, geben sie für 1,25DM an die Kundschaft ab. 75 Pfennig wandern in ihre Taschen, der Rest fließt in den Verlag.

Rund 2.000 Big Issue-VerkäuferInnen bringen das bunte Magazin im DinA-4-Format regelmäßig unter die Leute, das am 18.September 1990 zum ersten Mal durch die Druckerpresse lief. Damals freilich gab es nur 13 VerkäuferInnen, erschien Big Issue noch einmal monatlich im Zeitungsformat und hatte eine Auflage von 30.000. Heute sind es 125.000 Exemplare. Das Unternehmen, dessen Startkapital von der Naturkosmetik- Ladenkette „Body-Shop“ kam, arbeitet inzwischen nahezu kostendeckend. Fakten, die für sich sprechen und die Verleger Bird darin Recht geben, daß das Unmögliche möglich ist, „wenn Du bloß nicht auf die Einschätzung von Profis hörst“.

Die hatten nämlich alle mit dem Kopf geschüttelt, als sein Freund, „Body-Shop“-Mitinhaber Gordon Roddick, von einer USA-Reise die Idee von Big Issue mit nach Hause brachte. Angetan vom New Yorker Magazin Street Life, das auf ähnliche Weise arbeitet, wollte Roddick ein ähnliches Projekt auf die Beine stellen. „Einen besseren als mich hätte er gar nicht um Hilfe bitten können“, meint Bird gar nicht bescheiden und kann das auch begründen. Der heute 46jährige ist gelernter Drucker, hat ein wenig Erfahrung im Schreiben und Designen und („Das habe ich anderen, vielleicht besseren Verlegern voraus“) lebte selbst jahrelang auf der Straße. Mit zehn Jahren, so Bird, sei er das erste Mal von zu Hause ausgebüchst. „Ab da ging's immer im gleichen Trott weiter: Straße, Polizei, Heim, Straße...“ Schließlich habe er das Glück gehabt, einen guten Erzieher kennenzulernen. Der verhalf ihm zu einem Platz in einer Kunstschule „und zum Sprung in das, was man so unter einem geordneten Leben versteht“.

Sein erstes Team stellte Bird mit einem Gitarristen als Co-Verleger zusammen, der schreiben konnte „und eine so große Klappe hatte, daß er denen da draußen sagen konnte, wo's lang geht“. Der jüngste Big Issue-Autor war ein 17jähriger, der bereits auf der Straße lebte. Auch heute noch besteht das komplette Team aus Obdachlosen. Nach einer kleinen Einführung gilt für sie in erster Linie das Motto „Learning by Doing“. Das Resultat: ein Magazin, das nicht nur für Obdachlose interessant ist. Neben speziellen Geschichten und Tips, die Leute ohne Dach über dem Kopf ansprechen sollen, enthält Big Issue in erster Linie verschiedenste Geschichten über Soziales, Umwelt und Kultur. Kinotips, eine Autoseite und eine Dichterecke haben ihren festen Platz ebenso wie Vermißten-Suchmeldungen.

Das Blatt ist nicht nur als Blatt ein großer Erfolg, sondern auch als Selbsthilfeprojekt. An die 200 Menschen, so schätzt Bird, habe Big Issue wohl schon von der Straße geholt. Als barmherzigen Samariter sieht er sich dennoch nicht. „Das Entscheidende ist doch: Die Leute bekommen nichts geschenkt, müssen selbst etwas tun, erarbeiten sich wieder Selbstachtung“, sagt er.

In England gibt es inzwischen nur noch wenige, die Big Issue nicht kennen, die SchottInnen sollen es ab April kennenlernen. Doch Bird denkt bereits weiter. Etliche Anfragen bekomme er regelmäßig aus deutschen Städten wie Berlin, Hamburg und Frankfurt. Erste Verhandlungen mit Interessenten stehen bevor. Wenn alles klappt, verspricht der Verleger, könnte das Blatt schon im kommenden Sommer in Deutschland seine NachahmerInnen finden. Antje Passenheim