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Im persischen Dorflabyrinth

■ Ein Film von Abbas Kiarostami

Vordergründig ist Abbas Kiarostamis „Wo ist das Haus meines Freundes?“ ein Kinderfilm. Die Geschichte handelt vom achtjährigen Ahmad, der sich den Regeln und Anforderungen seiner Kultur widersetzt. Vor die Wahl gestellt, sich für den Gehorsam gegenüber seinen Eltern oder für die Loyalität zu seinem Klassenkameraden zu entscheiden, bricht er mit dem engen Sippenkodex der iranischen Dorfgemeinschaft und tritt als einzelner auf. Der Film ist ein leises Plädoyer für individuelle Widerborstigkeit, ein Aufruf, eigene Wege zu wagen.

Ahmad geht in dieselbe Klasse wie Mohammad Reza. Als diesem vom strengen Lehrer wegen eines vergessenen Schulheftes angedroht wird, im Wiederholungsfall die Schule verlassen zu müssen, passiert das Unvermeidliche: Ahmad steckt beide Hefte ein. Erst daheim, über den Hausaufgaben, fällt ihm das auf. Er versucht, seine starrköpfige Mutter davon zu überzeugen, daß er das Heft unbedingt ins Nachbardorf Pohteh zu seinem Freund bringen muß. Doch diese wittert nur Faulheit und verbietet ihm, das Haus zu verlassen. Den Einkaufsgang nutzt er dann, um auszubüchsen. Im Nachbardorf angelangt, beginnt für ihn eine atemlose Suche nach dem Freund, dessen Heim ihm unbekannt ist. Verwinkelte Gassen, endlose Hausmauern, Souterrains und Zwischengeschosse machen aus dem fremden Dorf ein rätselhaftes Labyrinth. Ahmad trifft auf alte, verlebte Menschen, die ihm ihre Geschichten erzählen, aber nicht weiterhelfen können und in falsche Richtungen schicken. Sie klagen über ihre Gebrechen, sinnieren über den Wandel der Zeit oder, wie sein Großvater, über die richtigen Erziehungsmethoden, um Gehorsam und Ehrerbietung zu zementieren; Kinder zählen nicht als Individuen. Niemand hört Ahmad zu; vielmehr wird versucht, ihn mit kleinen Aufträgen zu schikanieren. Der Großvater verlangt von ihm partout, Zigaretten von zu Hause zu holen, obwohl er welche dabeihat – eine reine Maßregelung.

Die von Kiarostami vorgeführten Figuren repräsentieren allesamt bestimmte Wertvorstellungen und stehen für ein versteinertes Moralsystem. Für den aufgeweckten Kinderblick zeigt sich die Welt der Erwachsenen ebenso verworren wie das Labyrinth des fremden Dorfes. Die Erwachsenen-Bräuche und -Sanktionen zu begreifen, heißt deshalb, sie zu hintergehen. Ahmad, dessen Beharrlichkeit zwar an dem Abend nicht mehr zum Erfolg führt, lernt dabei viel mehr, als die Schule ihm beibringen kann. Während er dafür vom Vater, als er heimkehrt, mit Schweigen bestraft wird, lenkt die Mutter schnell ein. Am nächsten Morgen gelingt es ihm dann, das Heft seinem Freund rechtzeitig zuzuschieben, bevor der Lehrer es begutachten kann. Die Hausaufgaben hat er für ihn mitgemacht.

Kiarostami verwendet häufig halbtotale oder totale Einstellungen, die lange andauern, so daß die Orientierung im Bild nicht schwerfällt. Seine Kadrierung ist klar und einfach. Trotzdem stattet er das Nachbardorf mit einer klaustrophobischen Atmosphäre aus, die nicht nur von der verwinkelten Räumlichkeit herrührt, sondern auch von einer expressiven Licht- und Schattensetzung, durch ornamentale Holzverzierungen hindurch. Eine solche Stilisierung steht keineswegs im Widerspruch zur realistischen Intention, die Kiarostami hegt. Vielmehr gelingt es ihm hierdurch, das Motiv der Suche und des Umherirrens als Metapher für gesellschaftliche Erneuerung und Loyalität zu eigenen Ideen zu prägen. Obwohl vom „Institut für intellektuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen“ produziert, ist „Wo ist das Haus meines Freundes?“ keineswegs nur ein Film für diese. Helmut Merschmann

„Wo ist das Haus meines Freundes?“ läuft bis zum 27.1. um 17.30 und 20.45 Uhr in der Filmbühne am Steinplatz.

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