piwik no script img

Der Held, dein Feind

Das Theater Frankfurt/Oder hat Grabbes Historienschinken „Hannibal“ ausgegraben  ■ Von Sabine Seifert

Frankfurt/Oder hat sein Theater, einen Neubau, der nach der kriegsbedingten Zerstörung der alten Spielstätte entstanden ist, zur Seite, an den Stadtrand geschoben. Eine Stadt, die selbst am Rande Deutschlands liegt, an der Grenze zu Polen. Frankfurt war preußische Garnisonsstadt; hier wurde Heinrich von Kleist geboren, dessen Namen das Theater heute trägt. Hinter dem Kleist-Museum liegt rechter Hand Armeegelände, wo einst die NVA und heute die Bundeswehr haust und den Grenzfluß überwacht. Der Fluß ist ziemlich breit, die andere Uferseite, Polen, geht flach aus dem Wasser hervor. Oderbruch. Auf dem Hauptbahnhof in Frankfurt warten eine gestrandete Roma-Familie und mehrere Polen mit riesigen Taschen auf den Zug nach Berlin. Eine Straßenbahn fährt zum Theater, den Berg hoch, die August-Bebel-Straße lang, und auch Ernst Thälmann hat seinen Straßennamen in Frankfurt noch nicht aufgeben müssen. Aber wer weiß, welche anderen Symbole und Schilder, die im Straßenbild sichtbar waren, nach dem Ende der DDR schnell demontiert worden sind?

„Auf die politische Vernichtung folgt die säuberliche Beseitigung der Reste und Spuren. Eine psychische Landschaft muß planiert werden, nach Art Karthagos, das heißt: dem Erdboden gleichgemacht.“ So heißt es im Programmheft, das am Premierenabend verteilt wird. Diese Sätze vermitteln zumindest eine Vorstellung davon, was ein Historienschinken wie Christian Dietrich Grabbes „Hannibal“ aus dem Jahr 1835 mit dem Obertitel „1989 – ein Deutschlandprojekt“ zu tun haben könnte. (Als Prolog hat Rudolf Koloc, Schauspieldirektor am Kleist-Theater, eine DDR-Biographie als Text- Collage inszeniert.) Der junge Regisseur Armin Petras, Absolvent des Ernst-Busch-Regieinstituts in Ostberlin und später Regieassistent bei Dieter Dorn in München, hat die Geschichte von Grabbes Anti-Anti-Helden Hannibal mit der historischen Distanz von 2.000 Jahren wie einen Science-fiction gestaltet.

„Ich wollte Grabbe mit heutigen Mitteln erzählen“, sagt der Regisseur bei einem Probenbesuch. Wo einerseits in der Vorlage radikal gestrichen worden ist (das Stück verlangt eigentlich nach Art eines Monumentalfilms mehrere hundert Statisten), hat man andererseits mittels Fremdtexten hinzugedichtet. Eine übervolle szenische Phantasie sprengt den Rahmen, am Ende wird die Mannschaft das Stück von vier auf zweieinhalb Stunden herunterkürzen, was ihm nicht unbedingt zum Vorteil gerät.

Der Einfälle sind zu viele, die Technik des Hauses macht das nicht mit. „Im Westen war das andersherum“, sagt Petras, der zum ersten Mal auf einer großen Bühne inszeniert, „da hat die Technik immer reibungslos funktioniert, dafür waren die Schauspieler nicht sehr engagiert.“ Während des Durchlaufs gibt es Pannen, die einen Teil der (zuschauenden) Schauspieler erheitert, den anderen (spielenden) Teil aber erbost. Auf der Bühne steht nämlich ein riesiger Toaster aufgebaut, ein Einfall des Bühnenbildners Philipp Stölzl. Das Alltagsinstrument symbolisiert zugleich den Kinder verschlingenden Gott Moloch sowie die Menschen verheizende Kriegsmaschinerie in Karthago. Ein junger Knabe, der neugierig und naiv darauf klettert, als handele es sich um eine besondere Aussichtsplattform für Schlachtenbummler und Kriegstouristen, wird vom Inneren des Geräts verschluckt. Der Toaster dampft und spuckt wenig später Asche aus – unglücklicherweise den direkt darunterstehenden Schauspielern ins Gesicht. Lutz Güntzel, in einer Doppelrolle als Hannibal und Pförtner, wirft den Staubsauger an. Nochmals wird ihm Staub ins Gesicht geblasen.

Mit dem Toaster verknüpft Hannibal als Nathan die Geschichte von der verbrannten Judenfamilie. Insbesondere dieser zweite Teil des „Hannibal„- Abends wirkt bei der Premiere dichter, durchdachter. Das mag daran liegen, daß hier weniger gekürzt wurde; es offenbart zugleich die Schwächen oder vielmehr strukturelle Anfälligkeit dieser Inszenierungsweise. Gerade das Assoziative, das Überbordende der Phantasie macht den Reiz und das Risiko dieser Methode aus. Reizvoll, weil ganz unerwartete, aktuelle Verknüpfungen geschehen, unvorhergesehene Seitensprünge; riskant, weil sie den ursprünglichen Text aus den Augen verlieren, sich verselbständigen können und eine Beziehungsdynamik entwickeln, die immer weiter weg vom Stück führt. So muß dann das Phantasiegestrüpp wieder beschnitten werden, wie es vorwiegend im ersten Teil geschehen ist, so daß ein rudimentäres Handlungsgerüst zum Vorschein kommt. Wer das Stück nicht kennt, und wer kennt es schon, der hat Schwierigkeiten, den Gang der Dinge nachzuvollziehen.

Denn wer ist Hannibal? Etwa dieser verlumpte Mann mit Wollmütze nach Art der afrikanischen Einwanderer? Er reißt einen Stiefel aus Papier mit den Umrissen Italiens, heftet ihn an den Bühnenvorhang und murmelt „Scheißafrika“. Seine Heimat ist ihm nach jahrzehntelangen Eroberungskriegen auf dem europäischen Kontinent fremd geworden, seine eigene Enkelin erkennt ihn nicht mehr; seine Erfolge, seine Person sind längst Legende. Die politischen Machthaber Karthagos wollen den Helden und Vater aller Schlachten draußen, im Kampf gegen die Römer schwächen und besiegeln damit doch den eigenen Untergang und den Karthagos. Hannibal verwandelt sich am Ende in einen Lessingschen Nathan, der die Ringparabel unendlich traurig noch einmal erzählt. Er hat der Welt nichts mehr zu sagen, von diesem proletarischsten aller Helden kann niemand mehr etwas lernen.

Alitta (Rahel Ohm) zumindest hat an ihn geglaubt, seine Enkelin. Mit der Hysterie einer Pubertierenden, eine Kindfrau, drängt sie ihren Gatten Brasidas (Gunnar Teuber), in den Krieg zu ziehen und Hannibal beizustehen. Er soll gehen, nein, er soll sie doch nochmal lieben, hier gleich auf dem geblümten Sofa. Will er jetzt doch etwa hier bleiben und kneifen? Brasidas sammelt stumm seine Kleider wieder ein, die Lederhose mit den Deutschlandstreifen an der Seitennaht. Weg ist er, und Alitta ist ganz erschrocken, daß er nicht mehr wiederkommt – nie mehr wiederkommen wird.

Brasidas ist kein strahlender Held. Mitten im Schlachtengetümmel zieht er einmal mit pantomimischen Gebärden das Funktelefon aus der Tasche, ihr Anrufbeantworter in Karthago meldet sich. Bis Brasidas etwas herausdrucksen kann, sind die paar Sekunden Sprechzeit schon wieder um. Mit den Mitteln des Comics läßt sich die Geschichte der Karthager ohne weiteres quer durch alle Zeitebenen verschicken; auch das Heute, der Zusammenbruch des Ostblocks, auf den heftig angespielt wird, gehört in einem solchen Science-fiction (Fans werden einige Zitate aus Filmen des Genres erkennen, etwa Hannibals Reden mit der Bombe) gleichzeitig der Vergangenheit an. Ein Mittel zur Distanzierung, Ironisierung.

Denn natürlich geht es in Armin Petras' Inszenierung, für die Philipp Stölzl eine Art Grenz- oder Niemandsland mit gelb-schwarzen Streifen als Bühnenschräge entworfen hat, um die Erfahrung, Zeuge des Endes eines geschichtlichen Entwurfs, einer bestimmten Gesellschaft gewesen zu sein. Karthago erhält ein rotes Firmament (die Stadt wird brennen). Die rote Tuchdecke reißt, die Umrisse eines fünfzackigen Sterns werden sichtbar – Zusammenbruch eines Imperiums. Scipio, der römische Eroberer, erscheint mit der Überlegenheit westlicher Technologie; jede seiner Bewegungen ist von einem hellen Summton unterlegt, als sei alles radargesteuert und im Visier seiner Waffen. Und doch sind es die drei Alten, die heimlichen Regenten Karthagos, die den äußeren Feind einlassen, um den inneren Feind zu besiegen und damit ihr eigenes Ende und das Karthagos zu besiegeln. So werden Sieger zu Besiegten, Freunde zu Feinden, alte Feindbilder durch neue ersetzt. Geschichte als Science-fiction, gebrochener Zukunftsglaube; nicht nur die Ost-West-Konstellation oder Europa als moderne Sklavenhaltergesellschaft, auch die Atombombe und die Apokalypse wurden da hineingepackt. Geschrumpfte Sicht; geschrumpelte Weltgeschichte.

„Ich bin ganz kaputt vor Erinnerung“, sagt Alitta am Ende, bevor sie der Yeti, dieser legendäre Schneemensch, holt. Wohin mit all diesen Erinnerungen, was tun mit ihnen? Armin Petras und seinen Leuten muß es bei der Arbeit so gegangen sein: Es wurden immer mehr.

Der Inszenierung und dem Theater, das sich an das gesamte Deutschlandprojekt gewagt hat, ist zu wünschen, daß es auch immer mehr Zuschauer werden.

Christian Dietrich Grabbe: „Hannibal“. Regie: Armin Petras. Bühne: Philipp Stölzl. Mit Lutz Güntzel, Uli Keller, Rahel Ohm, Gunnar Teuber, Meinolf Steiner, Rolf Günther, Horst Damm, Barbara Teuber, Andrej Kaminsky. Kleist-Theater Frankfurt/Oder. Nächste Aufführungen: 20.Januar, dann erst wieder am 11. und 20.Februar.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen