: "Codex Traditionum" kehrt heim
■ Betagtes Bücherschicksal: Vom Fund im Bremerhavener Nachkriegsbahnhof bis zum Exodus
„Codex Traditionum“ kehrt heim
Betagtes Bücherschicksal: Vom Fund im Bremerhavener Nachkriegsbahnhof bis zum Exodus
Bücher haben ihr Schicksal. Den Spruch hat mal einer erfunden, der Latein konnte. Da hieß es: Habent sua Fata Libelli. Der Bremerhavener Magistratssprecher Volker Heigemooser seufzt sinngemäß Vergleichbares auf Deutsch und beendet damit ein Gespräch über Bremerhavener Bücher, die ein wahrhaft geheimnisvolles Schicksal haben.
16 Folianten unterschiedlicher Größe. In feines Leder gebunden, auf dem Jahrhunderte ihre Spuren hinterlassen haben. Seit an Seit standen sie 48 Jahre in einem Regal der Stadtbibliothek Bremerhaven. Ein rätselhaftes Schicksal, das wohl nie geklärt werden wird, hatte sie zusammengeführt. Und jetzt sind sie wieder getrennt. Für immer. Hier ist ihre Geschichte.
Im Jahr 1945 fand sich in einem Waggon auf dem Bremerhavener Hauptbahnhof eine herrenlose Kiste. In ihr waren die 16 Bücher, von den Seiten einer Berliner Zeitung umhüllt. Ein Besitzer fand sich nicht. Und was hätte man auch tun sollen? Die Nachkriegszeit, da hatte man Wichtigeres zu tun.
Die Bücher kamen zum Fundamt. Und nach geltendem Fundrecht wurden sie Monate später zum Eigentum der Stadt Bremerhaven. Prachtvolle Bände, kostbar und alt: Eine Koberger Bibel etwa, reich illustriert und vergoldet, aus dem Jahr 1483. Ein Magdeburger Kirchengesangbuch von 1542. Ein „Kräutterbuch“ von 1630. „Der kluge und rechtverstände Hausvatter“ von 1680. Die „Bremer Chronik von Rynesberg“ von 1580.
Viele Jahrzehnte später — man schrieb mittlerweile das Jahr 1992, und die „Wahrhafftige Beschreibung aller alten Kirchen“ hatte gerade nach Foliantenart ihren 410. Geburtstag gefeiert — waren die Wirren der NAchkriegszeit beendet und man besann sich der alten Bücher und ihrer unbekannten Besitzer.
In detektivischer Arbeit gingen Botschaften über den Schatz an mögliche Vorbesitzer. Da fand sich eine Famile im Süddeutschen namens von Nostiz, die die „Wahrhafftige Beschreibung aller alten Kirchen“ vermißte. Die Bremer Staatsbibliothek freute sich, den „Codex Traditionum Coerbeiensum“ nach 50 Jahren zurückzubekommen. Die kostbare Kolberger Bibel blieb herrenlos, zieht aber wegen ihres Wertes und ihrer Pflegebedürftigkeit ins Bremer Staatsarchiv um und feiert dort bald ihren 510. Geburtstag. „Der Stadt Frankfurt ernewerte Reformation“ von 1611 soll nach Frankfurt abgegeben werden. Verkauft gar? „Neien“, sagt Herr Heigenmooser, „nicht direkt.“ Aber vielleicht hat die Stadt Frankfurt etwas, das sich besser in BRemerhaven macht. Oder die Stadt Trier. Die bekäme dafür die „Historia Treverensis“. Oder die Stadt Augsburg. Für die steht die „Augsburger Chronik“ von 1595 bereit.
Bücher haben ihre SChicksale. Welcher gierige Raffzahn mag die 16 in Würde gealterten Folianten bei Kriegsende aus aller Herren Bibliotheken zusammengeklaut und in eine Berliner Zeitung verpackt haben? Und warum hat er sie schmählich in einem Bremerhavener Bahnhof ihrem Schicksal überlasssen? Rätsel über Rätsel. Die alten Bpücher haben ein neues Kapitel ihrer Geschichte begonnen. Bald stehen sie in neuer Gesellschaft, Rücken an Rücken, Seit an Seit, für viele, viele Jahre. Und irgendwann wird vollends vergessen sein, daß es einmal unruhige Zeiten gab, in dene sie in einem Waggon auf dem Bremerhavener Bahnhof standen.
Lutz G. Wetzel
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