: Erwachsen werden in Wohngruppen
■ Erstes Wohnprojekt für psychisch gefährdete Jugendliche in Berlin eröffnet/ Betreuung soll Klinikaufenthalt vermeiden
Berlin. Die Einweisung in psychiatrische Kliniken ist für psychisch Kranke oft der letzte Ausweg. Ein längerer Aufenthalt in diesen Einrichtungen macht es aber oft schwer, wieder in das normale Alltagsleben zurückzufinden. Wenn das schon für Erwachsene ein Problem ist, wieviel schwieriger ist es dann erst für die Jugendlichen, die während der Zeit, wo ihre AltersgenossInnen „erwachsen werden“, hinter den Krankenhausmauern ein völlig abgeschirmtes Leben führen. Die meisten von ihnen sind danach gar nicht mehr fähig, ein normales Leben zu führen, selbst wenn ihre Krankheit sich gebessert hat.
Um einigen dieser Jugendlichen außerhalb der Klinik ein normales Leben zu ermöglichen, gibt es jetzt in Berlin erstmals eine betreute Wohngruppe für psychisch beeinträchtigte Jugendliche zwischen zwölf und 18 Jahren. Am heutigen Samstag werden vier Jugendliche in eine 240 Quadratmeter große Wohnung in Pankow einziehen. Vier weitere werden in den nächsten Wochen dazukommen. Ziel der Wohngemeinschaft, die von sechs ErzieherInnen rund um die Uhr betreut wird, sei eine Verhinderung von längeren Klinikaufenthalten, erklärte die Psychologin Barbara Hestermeyer gestern während eines Pressegespräches zur Eröffnung. Träger der Einrichtung ist „Der Steg“, ein 1983 gegründeter „Verein zur Wiedereingliederung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher“.
Viele der Jugendlichen kommen aus zerrütteten Familienverhältnissen. In Jugendheimen und Jugendwohngruppen würden sie wegen ihrer Verhaltensauffälligkeiten und auch wegen der immer noch verbreiteten Berührungsängste gegenüber psychisch Kranken meist nicht aufgenommen, betonte Hestermeyer.
Oft ist für die psychisch gefährdeten Jugendlichen eine besondere Betreuung notwendig. So war eine der Jugendlichen, die jetzt in die Wohngruppe einzieht, mehrere Jahre in der Klinik Wiesengrund. Sie konnte die Schule nicht mehr besuchen, weil sie jedesmal in einen Tiefschlaf fiel, sobald sie am Schultisch saß. Den sechs ErzieherInnen wird deshalb in schwierigen Fällen Frau Hestermeyer als Psychologin beratend beistehen. Außerdem wird es eine intensive Zusammenarbeit mit dem Jugendpsychiatrischen Dienst und einer Ärztin geben, um die medizinische Versorgung zu gewährleisten.
In die Wohngruppe sollen hauptsächlich Jugendliche aus den Nordbezirken einziehen. Die Bundesfinanzverwaltung, der die ehemalige Diplomatenwohnung in Pankow gehört, hat allerdings nur einen auf ein Jahr befristeten Mietvertrag ausgestellt. Danach wird es voraussichtlich einen Umzug in zwei getrennte Wohngruppen mit fünf beziehungsweise sechs Jugendlichen geben. Die beiden Wohnungen, die für das Projekt in Aussicht sind, werden 1994 beziehbar sein. akk
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