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Europa liegt an der Schelde

Eine Erkundungstour durch das flämische Antwerpen. Die traditionsreiche belgische Hafenstadt, europäische Kulturhauptstadt 93, hat sich dieses Jahr der Kunst verschrieben.  ■ Von Hanne Daubert

Ich komme nicht zum ersten Mal nach Antwerpen – sicher auch nicht das letzte Mal. Einfach auf Erkundungstour gehen in dieser kleinen Großstadt, in der es sich so gut leben läßt. Ich habe Zeit. Deshalb muß ich vom Bahnhof nicht direkt die Kathedrale ansteuern. Ich folge einem anderen, unübersehbaren Wink: auf einer riesigen Brandmauer wirbt der Sun-Wah- Supermarkt. Chinatown in Antwerpen? Der Supermarkt ist wunderbar: von Abalone bis Zitronengras gibt es alles, was die asiatische Küche zu bieten hat. Obendrein die abenteuerlichsten Küchengeräte, schöne Papiere. Chinatown ist wenige Straßenzüge groß und mündet in einen dreieckigen Platz, der von Nachtbars und Imbißbuden umgeben ist.

Tagsüber ist hier nichts los, also bummele ich weiter. Ein afrikanischer Friseurladen zeigt neueste Haarmoden im Schaufenster. Das Restaurant nebenan erklärt ausdrücklich, black and white zu sein. In kleinen Kneipen stehen Afrikaner an der Theke, laute Musik dringt heraus. Ein paar Straßen weiter kehre ich ein. Die Wirtin, in Hausschuhen, Kittelschürze und Strickjacke, schlurft von Gast zu Gast, erzählt, hört zu und verteilt Biere. Die hat ihr Mann, hemdsärmlig mit breiten Hosenträgern, gezapft, was in Belgien keine Kunst ist. Hausfrauen mit überquellenden Markttaschen, tätowierte Seeleute, junge Paare mit Kind und die Rentner aus der Nachbarschaft. So ziemlich alles an Publikum ist vertreten, was dieses Viertel zu bieten hat. Ich nehme mir vor, so oft wie möglich einzukehren; Kneipen in dieser Stadt sind Tag und Nacht ein Erlebnis.

Richtung Zentrum laufe ich kreuz und quer durch kleine Seitenstraßen über grobes Kopfsteinpflaster. Von den schönen alten Häusern sind viele verfallen und verwahrlost. Dann und wann eine Abrißlücke, die auch nicht gerade neu erscheint. Nichts erinnert hier an Gent oder gar das propere Bilderbuchstädtchen Brügge, die meist in einem Atemzug mit Antwerpen als die drei flandrischen Kunststädte vorgestellt werden.

Seemannsmissionen am Boulevard und bunte Seamen's Bazars am Falconplein mit seinem angrenzenden Rotlichtbezirk erinnern mich daran, daß Antwerpen schließlich den zweitgrößten Hafen Europas hat. Davon ist in der Stadt selbst nicht viel zu sehen. Lediglich die Straßennamen, die auf Kaai oder vliet enden, erinnern noch daran. Die letzten Docks in der Antwerpener Südstadt wurden in einem Schildbürgerstreich erst in den 60er Jahren zugeschüttet. Jetzt legt am Scheldekaai ab und zu ein größerer Pott an. Der eigentliche Hafenbetrieb aber läuft draußen vor den Toren der Stadt; die Silhouette der petrochemischen Anlagen weist den Weg.

Die Altstadt rückt spürbar näher: Hausfassaden sind jetzt renoviert, schöne Innenhöfe gepflegt. Allerdings bleiben mir etliche Ein- und Ausblicke verwehrt – immer wieder enden meine Wege an Baustellen. Antwerpen hat sich gerüstet für den Auftritt als Kulturhauptstadt Europas 1993.

Ihre Kathedrale haben die Antwerpener schon lange nicht mehr ohne Korsett zu Gesicht bekommen. Der pompöse Jahrhundertwende-Bahnhof, die „Eisenbahnkathedrale“ ist fast fertig renoviert. Die Arbeiten am Bourla-Theater, der ehemaligen „Königlich Niederländischen Schauburg“, die vor einigen Jahren knapp dem Abriß entging, werden noch etwas andauern. Daß dadurch eine regelrechte Welle von Renovierungsarbeiten ausgelöst wurde, kann einer Stadt wie Antwerpen nicht schaden.

Jahrzehntelang wurden Arbeiten an den meisten historischen Gebäuden sträflich vernachlässigt, oft genug war es bewußte Spekulation. Der Umgang mit den verfallenden alten Vierteln der Innenstadt ist ein trauriges Kapitel der Antwerpener Nachkriegsgeschichte. Das Hippodrom, einst der Kulturtempel fürs Volk schlechthin (mal gab es Boxkämpfe, mal sang die Callas), wurde 1973 dem Erdboden gleichgemacht. Noch heute klafft eine große Wunde gegenüber dem Museum für Schöne Künste. 1990 fielen der Abrißbirne mehrere alte Lagerhallen zum Opfer, Wunderwerke der Industriearchitektur, die das Bild des Hafen- und Wohnviertels am Willemdok bestimmten. Proteste nützten nichts. Der New Yorker Stararchitekt Richard Meyer setzte einen riesigen, schwarz- weiß leuchtenden Wohn-Laden-Büro- Block in das Sanierungsgebiet.

Antwerpen 1993 – die Stadt hat sich dieses Jahr der Kunst verschrieben. „Betrachten Sie Antwerpen 93 als einen Moment der Reflexion über die Kunst in Europa, ein dichtes Ereignis, auf dem sich die künstlerische Vergangenheit und Gegenwart Europas so lebendig wie möglich repräsentiert.“ Große Worte. Ein Festival der zeitgenössischen Oper stellt Produktionen ausländischer Opernhäuser vor. Außerdem werden drei neue Opern, die in Zusammenarbeit mit flämischen Theatermachern oder Komponisten entstanden sind, uraufgeführt. Vier Choreographen, Anne Teresa de Keersmaeker, Philippe Decouflé, William Forsythe und Trisha Brown zeigen neue Arbeiten.

Aber auch weniger bekannte Namen aus der Antwerpener Szene des modernen Tanzes tauchen auf. Unter dem Motto „Der Fragensteller“ werden im wiedereröffneten Bourla-Teater das ganze Jahr über Stücke aufgeführt. Auf der „Arche“, einem Schubleichter, der von Ende April den ganzen Sommer lang am Scheldekaai liegen wird, zeigen junge KünstlerInnen aus 15 verschiedenen Städten Europas ihre Programme. Im August stößt der Getreidefrachter „Melquiades“ mit einer neuen Theaterladung hinzu. Eine französische Zigeunergesellschaft legt am linken Scheldeufer an.

Das Königliche Museum für Schöne Künste, das Museum für Zeitgenössische Kunst und der Skulpturenpark Middelheim zeigen zeitgenössische bildende Kunst. Im Hessenhuis, einem Hafengebäude aus dem 16. Jahrhundert, geht es in einer Ausstellung um die Geschichte der Stadt. Klassische und moderne Musik, Filme, Medienkunst, Photographie sind natürlich auch im Programm vertreten.

Titel verpflichten. Die Kulturhauptstadt 93 hat es dabei gar nicht nötig, in ihrem Programmheft ständig das europäische an dieser Stadt, an den Veranstaltungen zu zitieren. Antwerpen war in seiner wechselvollen Geschichte schon immer eine Stadt, die zahlreiche Verbindungen unterschiedlichster Art kreuz und quer durch Europa unterhielt. Als reiche Hafenstadt bis Ende des 16. Jahrhunderts war sie eine der wichtigsten Zentren europäischen Handels; alle bedeutenden Kaufmannshäuser hatten ihre Niederlassungen hier. Der jähe, durch Religionskriege ausgelöste wirtschaftliche Absturz der Stadt bedeutete aber noch lange nicht das Ende der Schönen Künste, der Buchdrucker und Verleger, der Wissenschaften. Schließlich ist der berühmteste Sohn der Stadt, Peter Paul Rubens, ein Maler des 17. Jahrhunderts, der als Diplomat auch in England und Italien lebte. Das Europäische an dieser Stadt hat eine lange Tradition – und das macht es vielleicht so selbstverständlich.

Antwerpen ist nicht Brüssel, schon gar nicht London oder Paris mit ihren hohen Ausländeranteilen an der Bevölkerung. Trotzdem – oder gerade deshalb – ist Antwerpen weltstädtisch – und provinziell zugleich. Die offene Atmosphäre einer traditionsreichen Hafenstadt, die Gelassenheit, Toleranz, oft genug auch Sturheit der Flamen trägt dazu bei. Von den vielen Grauzonen ganz zu schweigen. Die machen es immer mal wieder möglich – ein bißchen Glück und Beziehungen sind hilfreich –, daß Ausländer ohne offizielle Erlaubnis vielleicht doch eine Arbeit finden, daß zunächst aussichtslos scheinende Behördengänge plötzlich erfolgreich enden. Ein sympathischer Hauch von mediterranem Chaos weht durch die Straßen der Stadt – wenn ich bloß an den Verkehr denke. Aber auch in Antwerpen gilt: je dunkler die Hautfarbe der Migranten, desto genauer wird in die Papiere geschaut. Und nicht zu vergessen: die letzten Parlamentswahlen im November 91, bei denen sich mehr als ein Viertel der Antwerpener Bürger für den rechtsradikalen Vlaams Blok entschieden haben. Auch nicht zu vergessen: Immer wieder gibt es Zusammenstöße zwischen Rijkswacht und Ausländern. So geschehen im April 199l im Marokkanerviertel Borgerhout während des Friedensfestes, dem letzten Tag des Ramadan.

Denjenigen BesucherInnen, die ein bißchen hinter die Kulissen der schönen Altstadt schauen wollen, erzählt das Projekt „Offene Stadt“ vielleicht noch am meisten. „Drei Viertel – drei Orte“ heißt eine Initiative, die drei sozial schwache Stadtteile unter die Lupe nimmt: das Bleekhofviertel, Donkerpoort und die Gegend um den Stuivenbergplein. Die Gegenden sollen wieder aufgewertet werden. Ob und wie das gelingt, zeigt sich mit Sicherheit erst Jahre später.

Zwei Tage später sitze ich im etwas abgewetzten „Stadspark“ und schnappe noch mal nach Luft, bevor ich zum nahen Bahnhof laufe. Um mich herum lärmen jüdische Kinder auf den Klettergerüsten des Spielplatzes; ihre Mütter sitzen in Grüppchen auf den Parkbänken. Das jüdische Viertel – die Mehrzahl der Antwerpener orthodoxen Juden sind im Diamantenhandel beschäftigt – grenzt an den Park. Nicht weit von mir flechten sich zwei Afrikanerinnen kunstvoll Zöpfchen. Meine Banknachbarin zur Rechten ist Portugiesin und erzählt mir auf englisch von ihrem ägyptischen Mann. Meine Banknachbarin zur Linken fragt eine Passantin auf niederländisch nach der Uhrzeit – und erhält die Antwort auf französisch. Europa 93 in Antwerpen? Wenn alles so einfach wäre.

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