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Urnengang zum Müllzentrum

Im vorpommerschen Torgelow stimmen die BürgerInnen morgen über ein Recyclingzentrum ab/ Riesige Koalition plante im geheimen  ■ Von Oliver Zelt

Torgelow (taz) – In Torgelow ist Wahlkampf. Der ansonsten trostlos graue Bahnhof der vorpommerschen Stadt ist zuplakatiert. „Nein zu IRUT“ leuchtet es rot von schmutzigbraunen Wandtafeln. „Kein Gewinn für die Umwelt, Riesengewinne für die Müllschieber“ steht darunter. Auch die Pro-IRUT-Bewegung hatte Poster geklebt. Doch die sind „in einer nächtlichen Partisanenaktion“ abgerissen worden, so ein Kommunalpolitiker.

An diesem Sonntag sollen rund 9.500 Wahlberechtigte über ein gigantisches Industrieprojekt abstimmen. Die Kommunalpolitiker von CDU, SPD, FDP und PDS haben einen „Industriepark für Recycling und Umweltwirtschaft“ (IRUT) geplant. Auf 90 Hektar sollen 18 Betriebseinheiten u.a. Bauschutt aufbereiten, Altreifen verbrennen, Kühlschränke entsorgen und Gießereisande aufarbeiten. Auch ein Sondermüllager für 60.000 Jahrestonnen ist geplant. Die Entsorgungsgebühren für über eine Million Tonnen Müll, vor allem aus Berlin und Hamburg, sollen die Torgelower Stadtkassen füllen. Als Umschlagplatz ist der 45 Kilometer entfernte polnische Hafen Szczecin in die Pläne der Deutschen einbezogen. Versprochen sind 1.000 Arbeitsplätze.

Das, was für die Stadtobersten „die letzte große Chance“ für Torgelow ist, kritisieren Umweltschützer als „Müllzentrum der Nation“. Sie halten Bürgermeister Ralf Gottschalks Visionen vom sauberen Umweltpark, der kleine Firmen anlockt und so den wirtschaftlichen Aufschwung bringt, für Hirngespinste. „Wenn die IRUT kommt, machen die wenigen Touristen auch noch einen Bogen um die Stadt“, glaubt Umweltschützer Gerhard Rost. Nicht nur 150 Mülltransporter würden täglich durch Torgelow rasen, sondern die Luft auch durch die Abluft aus den Anlagen belastet.

Eine Bürgerinitiative sammelte 2.000 Unterschriften gegen das Projekt. „Damit waren nach unserer Kommunalverfassung genügend Unterschriften für ein Bürgerbegehren vorhanden“, so Gottschalk. Für den Schicksalstag sind acht Wahllokale von 7.30 bis 18 Uhr geöffnet. Die Bevölkerung ist gespalten. „Im Interesse der Arbeitslosen“, meint der 78jährige Paul Meister, „werde ich hingehen und abstimmen.“ „Meine Familie“, kontert eine Verkäuferin, „wird garantiert dagegen sein.“

Die Idee, den Aufschwung Ost durch Müll und Schrott nach Torgelow zu holen, wurde aus der Not geboren. Früher arbeiteten über 2.000 Menschen in den ortsansässigen Gießereien. Heute sind es weniger als 200. 62 Prozent der Bevölkerung müssen ihren Lebensunterhalt beim Arbeitsamt abholen. Auf den Straßen reiht sich Schlagloch an Teerhügel, und entlang der Zugstrecke aus Richtung Pasewalk liegt bergeweise verrosteter Schrott auf blankem Sandboden. „Wie haben Hunderte Briefe an potentielle Investoren geschrieben“, ist Gottschalk verzweifelt. Aber für die Adressaten war selbst eine Rückantwort-Briefmarke eine zu große Investition. „Da haben wir halt überlegt, ob wir auch an vermeintlich unattraktive Lösungen denken sollten.“

Das war im Herbst 1991. Die Stadtverordnetenversammlung beschloß, sich um die Ansiedlung eines Müll- und Recyclingparks zu kümmern. Bis Januar 1992 gab es Gespräche mit westdeutschen Ingenieurbüros, mit „Innovaplan“ aus Essen und „Ewi“ aus Mannheim. Hinter verschlossenen Türen entstand auf dem Papier der größte Recyclingpark Europas. Die Einwohner ahnten nichts vom Treiben im Rathaus.

Am 9.Juli 1992 war eine normale Bürgerversammlung angesetzt. „Und da tauchte dann“, erinnerte sich Gerhard Rost, „plötzlich das U-Boot auf.“ Im Herbst hatten die Zeitungen „etwas von einem Öko-Park geschrieben, und nun das. Mir ist der Kragen geplatzt.“ Wenige Tage später gründete er eine Bürgerinitiative.

Inzwischen sind Sondermüllverbrennung und die Elektronikschrottaufbereitung aus dem IRUT-Konzept verschwunden. Die Stadtverwaltung sah aufgrund von Umfragen besonders beim Sondermüllofen „fehlende Akzeptanz“. Noch wenige Monate vorher hatte Bürgermeister Ralf Gottschalk in einem Infoblatt diese Möglichkeit glatt ausgeschlossen: „Würde man etwas herausbrechen, würde das System wirtschaftlich nicht funktionieren.“ Entschärft ist damit bei der brisanten Anlage nichts, erklärt der Kieler Toxikologe Ottmar Wassermann. „Nach dem Sondermüllager kommt zwangsläufig der Ofen.“ Das sei im mittelfränkischen Schwabach genauso gewesen, erzählt Wassermann.

Wie die TorgelowerInnen abstimmen, ist offen. „Wenn man sich gegen den Plan entscheidet, ist eine Tür für die Zukunft zugeschlagen“, warnt Bürgermeister Gottschalk schon fast resigniert. Aber auch die Bürgerinitiative gibt sich nicht siegessicher. „Wir rollen die Fahne nach einer Niederlage nicht ein“, so Gerhard Rost.

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