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Von ätherischer Konsequenz

Folgerichtig und monströs: Peter Greenaways Ausstellung „Getöse der Wolken“ im Pariser Louvre  ■ Von Mirjam Schaub

„Fliegen will ich, doch, allein, fliegen kann ich nicht...“ Ein Stoßseufzer, und schon wird es dunkel im Untergeschoß des Palasts, dort, wohin Peter Greenaway, der Maler und Filmemacher, sich diesmal zurückgezogen hat. Aus den Beständen des Louvre hat er hundert, zumeist unbekannte, Tuschezeichnungen und Aquarelle der Altmeister des 16. und 17. Jahrhunderts ausgewählt, die Leonardo-da-Vinci- gegen die Michelangelo-Schule gestellt, die Tollkühnsten und Verzweifeltsten aus den Archiven geschleppt, um in einer Black box gleichsam, mit dünnen Trennwänden versehen, „Le bruit des nuages“, „Das Getöse der Wolken“ aufzuführen. Eine Studie über den Menschen, der gerne fliegen möchte wie ein Vogel.

1991 hatte das Rotterdamer Boymans van Beuningen Museum den Cineasten gebeten, eine neue Ausstellung aus den alten Beständen zu zimmern. Greenaway widmete sich damals dem Körper und einem (ihm eigenen) Kraftverhältnis: in Vitrinen saßen lebende Modelle, beschildert: „Junger Mann“, „Junge Frau“, „Alter Mann“, „Alte Frau“... Die Frierenden wechselten stündlich.

„Le bruit des nuages“ – nach Derridas Ausstellung der zweite Versuch des Louvres, die traditionellen Grenzen der Kunstgeschichtschreibung zu überschreiten – ist hingegen eher von ätherischer Konsequenz. Das Halbrund des mittleren Ausstellungssaales dient Greenaway in zweifacher Hinsicht als Projektionsfläche und Panorama. „Les Cieux“, die Himmel: das sind in weißes Passepartout gekleidete Aquarellstudien über Sonnenaufgang und -untergang, das Treiben unwirklich bestrahlter Wolken aus den Pinseln von Odilon Redon, Eugène Boudin und Delacroix, und es sind wandernde Lichtfelder, immer wieder abgedunkelte, abgeschattete Wolkenprojektionen, die ruhig über die Aquarelle ziehen. In der Ferne rauscht es verhalten wie aus Meeresmuscheln – eine maliziöse Greenaway-Verwirrung.

Das Getöse der Wolken ist kein Donner-Sound aus BBC-Studios, keine Außenaufnahme mit Anspruch auf Authentizität. Die Fährten, die Greenaway seinen BesucherInnen legt, entpuppen sich als rauschende, schwer passierbare Furten: Der ausgebildete Maler hatte zwar angekündigt, die Ausstellung in Prolog, Epilog und neun Phasen einzuteilen und das Thema des Fliegens in Form einer Wurfbahn (langsamer, steigender Aufstieg bis zum Höhepunkt, dann rascher Absturz) zu beschreiben, aber die Reihenfolge seiner Flugstudien hat er unmerklich durcheinandergebracht.

Wer fröhlich der Bildreihenfolge nachgeht (um keinen Weg zweimal zu machen), erreicht bereits nach der Lektion1 über die Schwere der Körper (Last des Atlas, Last der Träger des trunkenen Silen und so weiter) den Lichtkegel des Halbrunds. Mit Blick auf die Himmel Delacroix' (4) steigt man eilends, von epigonalen Adlerschwingen aus der Michelangelo- Schule (5) getragen, in die Stratosphären (6) des verrückten Antipodenmalers Francesco Primaticcio auf. Es ist leicht, so leicht zu fliegen, suggerieren die Bilder. „Wir sind nicht mehr von dieser Welt“, notiert Greenaway am Bildgruppenende, um uns Seligen für unsere Hybris gleich darauf die enorme Fallhöhe spüren, uns in die Tiefe des LaFage-Infernos stürzen zu lassen.

Wer glaubt, klüger zu sein, und der nominalen Chronologie der Bildgruppen folgt (viele Wege also zweimal macht), ist verleitet, den Höhepunkt, den freien Flug im halbrunden Saal, nur mit flüchtigem Blick zu streifen und ihn zugunsten der Sektion2 aufzuschieben. Hat man dort unter dem Titel „Mögliche Flüge“ Cambiasos Sturzengel und die gehässigen Sprünge der Goya-Hexe gesehen, gibt es kein Zurück zu den Himmeln. Zum Trost für das Uneinlösbare verringert sich die Falltiefe.

Umstandslos scheint Greenaway für den Zahlengläubigen den direkten Weg zum Ausgang zu empfehlen. Der darf gar nicht mehr fliegen (nein, auch nicht flugstürzen), sondern landet sofort bei den „Disgraciés“, den in Ungnade Gefallenen. Die geifernden Drachen Prud'hons, das rüsselnasige Ungeziefer von Schongauer, die vampiristischen Fledermäuse Brueghels beißen sich in den Eingeweiden des Niedergeschmetterten fest.

Wäre es doch wenigstens eine Hieronymus-Bosch-Hölle, eine gefräßige, beschäftigte, sehr lebendige Inkarnation der sieben Todsünden. Dort leisten sich die Sünder Gesellschaft. Denn „Du sollst aber nicht fliegen“ duldet keinen Plural, so wenig wie der Traum zu fliegen einen Gefährten duldet. Wer fliegt, fliegt und fliegt („Freier Flug“), will glücklich allein sein – frei. Wer abstürzt und fällt und fällt („Freier Fall“), ist schon wieder unglücklich allein.

„Die Schwerkraft drückt uns auf die Erdoberfläche. Und immer noch sind wir verrückt danach zu fliegen. Wir leben mit diesem Alptraum, bis das Gewicht unseres eigenen Körpers der Grund für die Niederlage ist. Wir sind wieder da, wo wir angefangen haben“, erklärt Greenaway auf der nebenstehenden Schrifttafel. Das Gesetz der Schwerkraft, natürlich. Glimpflich kann es ausgehen, wie bei Rodins marmornem Engel, der sich im Gleitflug durch „Le bruit des nuages“ die Nase aufschlägt. Aber eben auch tödlich: Die Bilder der Gehenkten von Beccafumi und Victor Hugo gleich daneben zeigen die andere, groteske Konsequenz: Die Schwere des Körpers bricht dem Verdammten das Genick – das Naturgesetz wird höchstrichterlich anbefohlen.

Was geschieht, geschieht durch das Gesetz. Das ist der erste Satz, den Greenaway aufstellt. An ihm erkennt man seine Filme wieder. Bei Greenaway sterben alle Menschen (Männer) aus genau vorhersehbaren Gründen. Das ist im „Kontrakt des Zeichners“ so, im „Aufstand der Frauen“, im „Bauch des Architekten“ (hier stürzt sich der Held mit der ganzen Schwere seines fülligen Körpers von einer Brüstung, als er sein Scheitern als Ausstellungsmacher begreift). Das ist der zweite Greenaway-Satz: Alle sterben durch Gewalt. Konkret, alle sterben durch die Hand der Frau. Die Männer mißverstehen das Geheimnis der Frauen, obwohl es ein offenes ist: Frauen sind wie die Natur. In dem einzigen Greenaway- Film, in dem eine Frau (und das aus fast natürlichen Gründen) stirbt, in „Ein Z und zwei Nullen“, siegt am Ende die Natur, erobern die Schnecken die bombastische Beobachtungsapparatur der Zwillingsbrüder, die sich gegenseitig die Todesspritze setzen.

Und der dritte Satz, der schlimmste von allen, lautet: Allen widerfährt durch Gesetz und Gewalt Recht. Vielleicht variiert Greenaway in seinem gesamten künstlerischen Werk nur den einen, klaren Glaubenssatz. Wie bei jeder Weltenformel sind die Variablen und ihre Beziehungen denkbar einfach.

„Le bruit des nuages“ erzählt die Geschichte dieser Konsequenz in jedem wunderlichen Bilddetail. Peter Greenaway stellt mit seiner Auswahl einige einfache Rechnungen über das Fliegen auf, versucht in der offenen Abfolge fest vorprogrammierter Phasen zwei mögliche Rechenschritte, multipliziert am Rand Bildkolonnen, kürzt und so weiter. Was unterm Strich erscheint, ist folgerichtig aber monströs, solange wir uns weigern, „natürlich sterben“ und „gewaltsam sterben“ zusammenzudenken, was wir allenfalls für Tiere gelten lassen.

Greenaway beschließt seine Ausstellung mit einem Epilog auf Redons „Ball“. Ein Ball, auf dem ungewisse, unwahrscheinliche Lichter ruhen, liegt da in seinem seltsam fremden Schatten. Greenaway nennt ihn „Redons philosophische Sphäre“, die condition humaine, vielleicht auch nur den Zynismus des Mensch gewordenen Gottes: „Fliegen ist verboten. Wir müssen neu anfangen.“

„Le bruit des nuages... partie pris de Peter Greenaway“. Louvre, Hall Napoléon, Métro Musée du Louvre. Täglich außer Dienstag 10 bis 22 Uhr. Bis zum 1. Februar. Katalog: 220 Francs

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