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Der „Alte“ und der „Dicke“

Prozeß gegen vier mutmaßliche Mitglieder einer internationalen Kinderhändlerbande/ Der einjährige Mate und die dreijährige Zuhra waren aus Asylbewerberheimen entführt worden  ■ Von Plutonia Plarre

Um den Prozeß im Kriminalgericht Berlin-Moabit liegt eine bedrohliche Mauer des Schweigens. Als Zeugen geladene Roma und Sinti können sich plötzlich an nichts mehr erinnern, ziehen ihre früheren belastenden Aussagen zurück oder kommen erst gar nicht. Von Drohbriefen und Schweigegeldangeboten in der U- Haft ist die Rede, ein Zuschauer macht Handbewegungen, die von einem der Angeklagten als Kehledurchschneiden gedeutet werden. In dem Verfahren vor der 6. Strafkammer müssen sich seit vier Verhandlungstagen ein Sinti-Ehepaar aus Holland, die 36jährige Maria d. B. und der 43jährige Ludovicus B. verantworten. Die beiden sollen als Mitglieder einer internationalen Kinderhändlerbande entführte Kinder gekauft haben, um diese im Ausland gewinnbringend zu verschachern. Die Anklage bezieht sich auf den Fall eines einjährigen Jungen und eines dreijährigen Mädchens, die im Oktober 1991 bei einer Razzia im Berliner Wohnwagen der Holländer gefunden worden waren. Der einjährige Mate war zuvor aus einem Berliner, die dreijährige Zuhra aus einem Braunschweiger Asylbewerberheim geraubt worden.

Neben dem Sintipaar sind zwei Roma, der 28jährige Rumäne Ioachim C. und der 24jährige Serbe Steven T. angeklagt. Im Gegensatz zu den Holländern, die jegliche Tatbeteiligung bestreiten, haben die beiden zugegeben, den einjährigen Mate nachts in einer Reisetasche aus dem Heim geschmuggelt zu haben, während dessen Eltern im Nebenzimmer feierten. Einen vergleichbaren Fall von Kindesentführung zum Zwecke des Verkaufs hat es in der Bundesrepublik bislang nicht gegeben, Handel mit Kindern dagegen schon lange. Für die Berliner Staatsanwaltschaft steht fest, daß mit der Festnahme der vier Tatverdächtigen weitere geplante Kindesverkäufe vereitelt wurden. Ob sie in diesem Prozeß jedoch beweisen können wird, daß eine international agierende Kinderhändlerbande von Sinti und Roma am Werke war, erscheint fraglich. Als mutmaßlicher Chef der Bande gilt der 45jährige fränzösische Rom Joseph C., genannt „Dodo“ oder „der Alte“. Der international gesuchte Mann soll ein Reisegewerbe als Metallveredler betreiben und sich angeblich die meiste Zeit in Schweden aufhalten.

Nach Angaben von Justizsprecher Bruno Rautenberg geht die Staatsanwaltschaft davon aus, daß die Kinder an „andere Zigeuner- Sippen“ weiterverkauft werden sollten, um von diesen ohne Wissen um ihre Herkunft aufgezogen und zum Betteln oder zur Begehung von Diebstählen eingesetzt zu werden. Die Ankaufspreise bezifferte der Justizsprecher auf 10.000 bis 20.000 Mark. Es sei auch gang und gäbe, daß auf Straftaten spezialisierte Kinderbanden „vermietet“ würden. Es gebe offensichtlich etliche „rumänische Zigeuner, die so arm sind, daß sie ihre Kinder aus wirtschaftlicher Not verhökern“. All diese Taten aufzudecken sei aber sehr schwer, weil weder die verkaufenden Eltern noch die Käufer daran Interesse hätten.

Für eine Anklage wegen Sklavenhandels und Menschenraubs reichen die Verdachtmomente der Staatsanwaltschaft aber offensichtlich nicht aus. Die Vorwürfe gegen die Holländer sind deshalb auf gemeinschaftliche Kindesentziehung aus Gewinnsucht sowie Freiheitsberaubung – die Höchststrafe beträgt jeweils zehn Jahre – beschränkt. Wie die beiden angeklagten Roma vor Gericht zugeben, haben sie den entführten einjährigen Mate den Holländern für 11.000 Mark plus 1.000 Mark Spesen überlassen. Allerdings hat sich der Rom Steven T. dabei gegenüber dem Sinto Ludovicus B. als Vater des Jungen ausgegeben. Den Holländern, die sich darauf berufen, sie hätten Mate adoptieren wollen, kommt dieser Umstand sehr gelegen. Er habe keine Ahnung davon gehabt, daß Mate geklaut worden sei, beteuert Ludovicus B. Er sei davon ausgegangen, in Steven T. den Vater des Jungen vor sich zu haben. Die 11.000 Mark habe er dem Rom lediglich als Darlehen für eine Reise nach Serbien gegeben. Auf die Frage, wie die beiden Mitangeklagten denn dazu kämen, daß er das Kind gekauft habe, sagt der Holländer: „Die Roma aus dem Osten lügen und betrügen und haben eine ganz andere Mentalität als wir.“ Die Gegenwart der dreijährigen Zuhra aus Braunschweig in ihrem Wohnwagen erklärt das holländische Paar damit, ein zwischenzeitlich verreister Wohnwagennachbar habe ihnen das Kind zur Obhut anvertraut. Sie hätten angenommen, Zuhra sei seine Tochter.

Aus den bruchstückhaften Zeugenaussagen und der Verlesung früherer Vernehmungsprotokolle ergibt sich, daß der mutmaßliche Bandenchef Joseph C. vor der Entführung des kleinen Mate mehrfach zusammen mit Ludovicus B. in Berlin gesehen worden war. Die beiden sollen zum Beispiel in einem Kinderkrankenhaus aufgetaucht sein, in dem das zu früh geborene rumänische Baby Persida S. lag. Die Mutter gab später bei der Polizei an, „der Alte“ habe ihr 10.000 Mark geboten, wenn sie Persida dem „Dicken und seiner Frau“ überlasse. „Dicker“ ist der Spitzname für Ludovicus B. Drei Tage später hätte „der Dicke“ das Kind holen wollen, aber der Arzt habe das mangelernährte Baby noch nicht entlassen wollen. Ob die Frau ihr Kind nur deshalb nicht verkaufte, weil etwas dazwischenkam, konnte nicht geklärt werden, denn sie war der gerichtlichen Ladung nicht gefolgt. Eine weitere Zeugin, die 29jährige Asylbewerberin Anica D., bestätigt, daß zwei Männer, vermutlich Ludovicus B. und Joseph C., ihren neugeborenen Jungen geschenkt haben wollten. Vor der Polizei hat sie sogar gesagt, die beiden hätten ihr 1.000 Mark dafür geboten, um das Kind „in Obhut“ zu nehmen.

Die mangelnde Aussagebereitschaft der Zeugen ist eine kaum zu überwindende Hürde. Daß der Familienclan von Maria d. B. und Ludovicus B. geschlossen aus Holland anreiste und im Zuschauerraum sitzt, trägt nicht gerade dazu bei, ihnen die Zunge zu lösen. Die stets modisch und figurbetont gekleidete schlanke Maria d. B. spielt in dem Verfahren eine sehr undurchsichtige Rolle. Als einzige der vier Angeklagten befindet sich die gutaussehende Frau seit einigen Wochen gegen Kaution auf freiem Fuß. Sie leide sehr darunter, daß sie keine Kinder bekommen könne, erzählt sie in einer Prozeßpause, und habe schon dreimal vergeblich in einer Rotterdamer Klinik eine künstliche Befruchtung vornehmen lassen. Die Bescheinigung ihres Arztes läge dem Gericht vor, aber das interessiere den Staatsanwalt überhaupt nicht. „In dem Verfahren geht es doch nur darum“, sagt sie, „das Vorurteil der Deutschen gegen die Zigeuner zu bestätigen, daß wir Kinder klauen.“ Das Urteil wird vermutlich heute verkündet.

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