: Katrin Achingers Ikarus-Modell in Musik
Überraschung! Plötzlich passiert etwas dort, wo man die Wüste vermutet hat. Im Mid-Tempo-Underground, wo pathetische Ansprachen und eine Überdosis falsch verstandener Kunst das Territorium verheert haben. Die konsequente Verwüstung hat dem Gebiet mitten in Hamburg aber eine Verjüngung und rätselhafte Stimmigkeit verliehen. Die Rede ist von Katrin Achinger, deren musikalische Ehe mit Matthias Arfmann unter dem gemeinsamen Projektballast Kastrierte Philosophen ein paar zu viele Platten produziert hat. Sowohl hat Arfmann seine Produzenten-Tätigkeit im Hamburger HipHop- Umfeld, als auch Achinger die sture Weiterentwicklung ihrer lyrischen Verschrobenheit gut getan.
Beweis für letzteres ist das jetzt vorliegende Soloprojekt Icaré, auf dem Achinger, musikalisch von Kammermusik und Völkerkunde begleitet, endlich die richtige Umgebung für ihren im Rockschema schwer niederziehenden Gesang gefunden hat. Ohne Angst ausgelebte Gedichte voller Symbole und aufflackernder Alltagsbeobachtungen passen zu Marimba und Streichern, und eben nicht zu Velvet-Underground-aus-der-Tube. Hier entfaltet sich ihr facettenreicher Gesang in spärlich angedeuteten Rhythmen ohne Zwinge und wandert wie nebenbei durch die Geschichte des Liedgesanges. Mittelalterliches findet sich ebenso wie Neutöne.
In einem dicken Booklet stehen die englisch gesungenen Texte auch in deutscher Übersetzung und stellen so von alleine die Frage, warum hier nicht gleich die Muttersprache benützt wird. Thema ist ein Ikarus- Modell des Lebens, das aber nicht in schlampig fabrizierten Vergleichen zur Antike, sondern in bizarren Eigenwelten entfaltet wird.
Katrin Achinger, die demnächst auch ein Buch über ihre fliegenden Träume veröffentlichen will, entwickelt mit Icaré eine Reife, die Musik und Text in ein Gleichgewicht bringt, dessen Schwerpunkt einiges über dem Hamburger Durchschnitt liegt. Till Briegleb
Katrin Achinger & The Flight Crew, Icaré, Strange Ways/Indigo
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