Wanderzirkus, angekommen

Ortsbesichtigung: Das Varieté „Chamäleon“ im Hackeschen Hof  ■ Von Stephan Schurr

Wenn Harald Ginda alias Hacki auftritt, gluckst das Publikum. Er tapst zur Bühnenmitte, zeigt die aufgesteckten Hasenzähne und den langen Pferdeschwanz, grinst und schaut sich um. „Puff“, sagt er und erntet schallendes Gelächter. The world's greatest magician steht auf dem Schild, das er vor sich herträgt, und man glaubt es gerne. Sein erster Trick: Er holt eine Bananenschale aus dem Zylinder und wirft sie hinter sich. Nach fünf Versuchen gelingt der zweite Trick: Im roten Seidentuch steckt der Zauberstab. Mit einem dumpfen langgezogenen „Boach“ kommentiert der Meister das Ereignis, verbeugt sich und schlurft davon. Applaus. Der Conferencier räumt die Bananenschale weg und sagt „Liza Minelli“ an: die Mitternachtsshow im „Chamäleon“ geht weiter, ihrem nächsten Höhepunkt entgegen.

Nur wenige Schritte vom S- Bahnhof „Hackescher Markt“ entfernt liegt der Hackesche Hof, Deutschlands größter Wohn- und Gewerbehof. 1906 wurde das Labyrinth – graue vierstöckige Gebäude, Seitenflügel, acht Höfe – erbaut. Fabriken, Betriebe und Geschäfte, aber auch ein jüdisches Altersheim und zahlreiche Wohnungen waren in dem Gebäudekomplex untergebracht, der sich von der Rosenthaler Straße bis zur Sophienstraße ausdehnt. Die Mieter der luxuriösen Wohnungen waren zumeist Kaufleute, Rechtsanwälte und Beamte. Der Hackesche Hof: ein eigenes Viertel inmitten der Gauner- und Ganoven-Gegend, in der Franz Biberkopf mit seiner „Mieze“ poussierte und Ostjuden, in engen Stuben zusammengepfercht, ihr Dasein fristeten. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Areal von den Bomben verschont. Die Zerstörungen folgten später. In den sechziger Jahren wird die Stuckfassade abgeschlagen, bauhistorisch wertvolle Innenräume werden zu Lagerräumen, Autowerkstätten und Maschinenfabriken umfunktioniert.

Der Saal ist bis auf den letzten Platz besetzt. Premiere der Show „Zwischen Himmel und Hölle“. An den Bistrotischen mit brennenden Kerzen sitzen Zuschauer aller Altersstufen. Zwei Gymnasiastinnen an meinem Tisch nippen an der Cola und paffen. Eine bunt geschminkte Engländerin – kurzes blondes Haar, Mitte fünfzig – wundert sich über die laxen Feuerschutzbestimmungen: „In London wäre das unmöglich: so viele Menschen in einem Saal und weit und breit kein Notausgang.“ Das Mädchen mit dem Bauchladen windet sich von Tisch zu Tisch. Feuerzeuge, die Wasser verspritzen, Wunderkerzen und Blechfrösche hat sie im Angebot. Papa am Nebentisch kauft sich einen Schluckspecht. 8 Mark kostet das Plastiktier. Ans Bierglas geklemmt, hämmert es drauflos. Die Tochter bleibt nun endlich ruhig sitzen. Hacki, der Zauberer von der Mitternachtsshow, schleppt zwei Bierkästen hinter die Bühne. Alfred Biolek am Tisch in der ersten Reihe rückt den Schlips zurecht. Das Licht geht aus, nur die Kerzen brennen auf den Tischen. Zwei Engel mit Fahrradkuriertaschen auf dem Rücken stellen sich unter das Trapez, das in der Saalmitte von der Decke hängt. Caroline Schroeck klettert nach oben und breitet grazil die Arme aus. Der andere Engel folgt ihr. Im Saalhimmel spielt sie nun Querflöte, er hält das Notenpult. Ein Trommelwirbel. Die beiden Engel schweben auf die Bühne. Die Show beginnt.

Im ersten Innenhof stehen die Baugerüste. Sie verbergen Fassaden, die der Jugendstilarchitekt August Endell gestaltet hat. Blau und grün glasierte Kacheln gliedern das Mauerwerk, vielleicht der schönste Innenhof Berlins. Linkerhand hängt über einer Flügeltür das große blaue Schild: Varieté Chamäleon. Auf ausgetretenen Stufen, an bröckelndem Putz vorbei, in einem mit Jugendstilornamenten verzierten und mit Ölfarbe beige gestrichenen Treppenhaus, kommt man zu zwei großen Festsälen. Der untere wird vom Chamäleon bespielt, im oberen hat eine Tanzschule die Proberäume. Auch hier stammt die Ausstattung von Endell. Was davon übriggeblieben ist: die Türen, Fliesen in den Toiletten und prächtige Säulen. Der Saal mit der Guckkastenbühne – früher Ball- und Konzertsaal, dann Kino, zuletzt Probebühne des DFF – faßt 300 Zuschauer, die Emporen sind geschlossen. „Es war ein chaotischer Anfang“, erinnert sich Peter Rose, Filmausstatter und nun seßhaft gewordener Wandervariete-Künstler. „Von dem leerstehenden Saal erfuhren wir zufällig. Alle schüttelten die Köpfe: Jetzt ein neues Theater, wenn andere geschlossen werden? Aber es hat geklappt.“ Ohne finanzielle Unterstützung – die gibt es auch heute noch nicht – renovierte er, zusammen mit den anderen Chamäleon- Gründern Hacki, Andreas Dücker und Reiner Grabowitz (dem einzigen aus der ehemaligen DDR), den Saal. Am 16. Februar 1991 lief die erste Show, der Erfolg kam nach kürzester Zeit. „Wir hatten Glück“, sagt P. Rose. „Alle stürzten sich damals auf Ostberlin, berichteten von der Szene rund um die Oranienburger Straße, dem alten Amüsierviertel Berlins, wo es in den Zwanzigern an die 100 Varietébühnen gab.“ Die Sunday Times schickte ihren Starfotografen, es gab eine Einladung zum Kulturfestival in Edinburgh, Wochenzeitungen brachten ganzseitige Artikel, und Ute Lemper verriet, wo sie am liebsten hingeht: ins Chamäleon.

Drei kurze Stunden lang „Zwischen Himmel und Hölle“: in perfekter Choreographie hebt ein Jongleur die Schwerkraft auf, Oguz Engin spuckt Spielkarten aus und zaubert bunte Bälle aus dem Nichts hervor, ein wildgewordenes Saxophon wird gezähmt und ein hilfloser Tourist hetzt im „Berlin- rap“ durch die Hauptstadt, von einer Baustelle zur nächsten. Eine durch alle Sparten der Musik streifende Band hält die Show zusammen. Der junge Conferencier parodiert sich selbst – nicht immer gekonnt, manchmal aufdringlich und mit allzu vielen Worten –, und Hermann, der zum Fürchten aussieht, aber eigentlich ein gutmütiger Kerl ist, darf zum Schluß ins Wunderland und die Puppen tanzen lassen.

Die Künstler im Chamäleon zahlen sich die gleiche Gage. Gemeinsam wird Regie geführt. Drei große Shows werden im Jahr produziert. In der Mitternachtsshow am Freitag und Sonnabend können sich junge Artisten erproben: meist sind es Absolventen der Kreuzberger Artistenschule „Etage“. Aber auch Cotton McAloon, der „Goldene Clown“ von 1989, ist derzeit zu sehen: Peter Rose kennt ihn noch vom Wanderzirkus. Er ist der witzigste Jongleur der Zunft mit seinen stupid tricks for ladies and Germans. Das Programm entsteht „spontan“.

Ob das Chamäleon überleben wird? Bestimmt. Der Hackesche Hof steht seit 1981 unter Denkmalschutz, ein Verein hat in einem „integrativen Nutzungsmodell“ dem Theater eine wichtige Funktion zuerkannt, die Eigentumsverhältnisse lassen wenig befürchten. Ein Amerikaner hat Ansprüche angemeldet. 109 Grundstücke sollen ihm in Berlin gehören, munkelt man, da wird er sich mit Berlins beliebtestem Varieté gerne schmücken wollen.

„Varieté Chamäleon“, Rosenthaler Straße 40/41, Mitte. Vorstellungen: Mi.–So., 20.30 Uhr. Fr./Sa. Mitternachtsshows.