: Der Tag, an dem Adolf Hitler die Macht geschenkt wurde
Raub, Fackelzug und Schlußverkauf: Das Gesicht des 30. Januar 1933/ Alltagssorgen bewegten vor 60 Jahren viele Menschen mehr als der Regierungswechsel ■ Von Anita Kugler
Am Morgen des 30. Januar 1933 scheint die republikanische Welt in Berlin noch in Ordnung zu sein. Nichts deutet darauf hin, daß dieser Montag als „Tag der nationalsozialistischen Machtergreifung“ in die Geschichtsbücher eingehen wird. Seit Tagen wissen alle, daß es mit der Regierung Schleicher schon wieder zu Ende geht und daß Papen, Hitler und Hugenberg miteinander verhandeln. Die Schlagzeilen der Berliner Morgenzeitungen sind daher nicht besonders originell: „Unsere Forderung nach Schleichers Sturz: Kanzlerschaft Hitler“ schreibt der Völkische Beobachter und die liberale, im Ullstein Verlag erscheinende, BZ-Am Mittag; „Hitler fordert wieder zuviel“.
Den „normalen“ Berliner wird Aktuelleres interessiert haben. Fast ein Drittel der Bevölkerung arbeitet kurz oder überhaupt nicht mehr und nur ein Bruchteil von ihnen erhält Arbeitslosenunterstützung. Da ist das Geld für Kohlen knapp, und die Nachricht, daß mit acht Grad Minus zu rechnen sei, eine Katastrophe. Viel wichtiger als die Kungelei der Rechten im Hotel „Kaiserhof“ ist daher die Meldung, daß der Magistrat 500.000 Mark Kohlenbeihilfe bewilligt hat.
Auch für die Schüler steht in den Zeitungen Wichtiges zu lesen. Eine Grippewelle tobt. 31 Schulen schließen für eine Woche ihre Pforten, die Krankenhäuser sind überfüllt, und die Patienten des Spandauer Hospitals müssen evakuiert werden, weil es jetzt auch die Pfleger und Ärzte erwischt hat.
Die Menschen im Winter 1932/1933 leiden unter Mangelerscheinungen, aus dem Umland werden die ersten Thypusfälle gemeldet. Weil Menschenansammlungen – so der Magistrat – deshalb möglichst zu meiden sind, werden die Kinoanzeigen nur mäßig interessiert haben. Am Olivaer Platz läuft seit Wochen ein Streifen mit dem Namen „Griff in die Mottenkiste“. Und das Renommierkino Primus-Palast zeigt am Abend die Premiere des späteren Dauerbrenners „Kaiserwalzer“.
Morgens um 10.30 Uhr verlassen Hitler und Göring den „Kaiserhof“ um mit einem Acht-Zylinder-Mercedes die paar Meter zum Reichstag zu fahren. Die Partei hat einige hundert Jubler zum Hotel geschickt, aber dicht gedrängt stehen die Massen ganz woanders. Am 30. Januar beginnt der Winterschlußverkauf, damals „Weiße Wochen“ genannt. Tisch und Leibwäsche gibt es bei Tietz und Wertheim für Pfennige, aber um die Kaufhäuser richtig voll zu machen, werden auch Lebensmittel zu „Sensationspreisen“ verkauft. Drei Pfund grüne Heringe für 25 Pfennig und das Kilo Kartoffeln für acht Pfennig. Bei einem durchschnittlichen Einkommen von sechs Mark pro Tag, ist dies wichtig zu wissen. Denn der Hunger regiert, und Armutskriminalität gehört zum Alltag.
Genau um 11.15 Uhr, kurz bevor Reichspräsident Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler ernennt, finden im Stadtgebiet mehrere Überfälle statt. Im Wedding wird ein Geldbote um 21 Mark erleichtert, und in der Filiale Nordstern in der Ratiborstraße setzt sich die Kette des organisierten Lebensmittelraubes fort. Diesmal werden Brot, Wurst und Bier im Wert von 38 Mark abgeschleppt, am Tag zuvor waren es bei Bolle Kartoffeln für 10 Mark, und am 31. Januar werden es wiederum Würste bei „Atze“ in Moabit sein. Und die Polizeibeamten, chronisch unterbezahlt, haben an diesem Tag anderes zu tun: Am Mittag fängt es an zu regnen, die Nässe überfriert, 59 Unfälle innerhalb von zwei Stunden müssen aufgenommen werden.
Um 12.40 Uhr haben die Nationalsozialisten ihr Ziel erreicht. Hindenburgs Schwiegersohn, Staatssekretär Meißner, gibt über Funk bekannt. „Der Reichspräsident hat Herrn Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt.“ Innenminister wird Wilhelm Frick und Göring zu seinem Ärger zunächst nur Reichsminister ohne Geschäftsbereich. Ab jetzt sind die Telefonleitungen überbesetzt, und Fahrradkuriere jagen durch die Stadt. Goebbels organisiert für den Abend einen Huldigungsmarsch von SA und Stahlhelmtrupps, die SPD ruft ihren Vorstand zu einer Sitzung in den Reichstag, und die KPD meldet einen Protestzug an. Vergeblich. Während für die Naziveranstaltung die Bannmeile um den Reichstag aufgehoben wird, werden sämtliche gegnerischen Demonstrationen verboten. Und vorsichtshalber auch gleich das Erscheinen der Roten Fahne am nächsten Morgen.
Noch sind die Nachmittagszeitungen nicht erschienen, aber wer einen Radioapparat besitzt, weiß schon Bescheid. Denn kurz nachdem der Reichskommissar für das Rundfunkwesen Hans Bredow sein Amt niedergelegt und das Rundfunkhaus an der Masurenallee verlassen hat, ergreifen nationalsozialistische Mitarbeiter „spontan“ (Goebbels) die Geräte und Aufnahmewagen. Groß getrommelt wird für den Fackelzug. Während der SPD-Vorstand ihren Aufruf „Bereit sein ist alles“ noch formuliert und „Kaltblütigkeit“ empfiehlt, machen sich die Nationalsozialisten auf die Beine. Der bayerische SPD-Abgeordnete Wilhelm Hoeger schreibt später in seinen Memoiren: „Zahllose Stahlhelmer und SA-Leute strömten gegen das Brandenburger Tor... Jugend, nichts als Jugend, ohne Bartflaum frische Knabengesichter, hastig eifrig, im Dienst.“ 25.000 Begeisterte marschieren von sieben Uhr bis nachts um eins die Charlottenburger Chaussee (heute Straße des 17. Juni) entlang, am Reichstag vorbei, durch die Wilhelmstraße und das Brandenburger Tor hindurch. Und Zehntausende stehen Spalier, singen das Deutschland- und Preußenlied.
Im Krankenhaus wird ein Baby namens Adolf geboren
Jeder vierte Berliner hatte bei den Reichstagswahlen im November 1932 der NSDAP seine Stimme gegeben, im März 1933 ist es sogar jeder dritte. „Berlin ist heute nacht in reiner Faschingsstimmung“, schreibt der liberale Publizist Harry Graf Kessler in sein Tagebuch, „ein wahrer Karneval tobt“. Und während die Massen feiern, wird in Neukölln die Lohnkasse der Zigarettenfabrik Reemtsma mit 20.000 Mark geraubt, und im Schöneberger Krankenhaus wird ein „Adolf“ geboren.
Am nächsten Morgen ist der Fackelzug der linken und liberalen Presse eine 40-Zeilen-Meldung wert, die bürgerlichen Blätter deuten ihn zu einer Hommage für Hindenburg um, und die NS-Gazetten überschlagen sich in Begeisterung. Ausführlich und auf Seite 1 wird überall berichtet, daß es auf dem Rückmarsch eines Charlottenburger SA-Trupps in der Wallstraße (heute Zillestraße) zu einer Schießerei mit den Kommunisten gekommen ist. Die beiden Toten, der berüchtigte SA-Führer Maikowski und der Polizist Zauritz, erhalten sechs Tage später ein Staatsbegräbnis. Daß zur gleichen Zeit SA- Schützen zwei Arbeiter in Spandau lebensgefährlich verletzen und daß in Berlin-Mitte eine Arbeiterkneipe demoliert wird, ist nur der Morgenpost unter der Rubrik „Vermischtes“ je drei Zeilen wert. In vorauseilendem Gehorsam hat die „Gleichschaltung“ schon begonnen.
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