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„Schlittelabenteuer Bergün“

Auf knirschenden Kufen in den Stau. Ein Tagesangebot der Schweizerischen Bundesbahn mit Tücken  ■ Von Werner Trapp

Was wären wir bloß ohne „BahnPLUS“, jenes zum touristischen Tageshit geschnürte Erlebnis-Paket der Schweizerischen Bundesbahn, welches unserer gestauten Sehnsucht nach „Erlebnissen“ mit „Tagesangeboten“ entgegenkommt, die weit mehr bieten als die simple Bahnfahrt: den Bustransfer, einen Museumseintritt, die Fahrt mit Schiff oder Seilbahn, mitunter sogar einen „Teller“ und für „Halbtax-Abonnenten“ einen saftigen Preisnachlaß dazu?

Wir wären wohl um eine wichtige Erfahrung ärmer. Nämlich die, daß jede noch so gut gemeinte touristische Idee, wird sie erst einmal von einer allzugroßen Menge aufgegriffen, zur Karikatur ihrer selbst zu pervertieren droht. Zum Beispiel: Das „BahnPLUS Schlittelabenteuer Bergün“, welches mir am heimischen SBB-Bahnhof unter einem guten Dutzend pastellblauer Werbeblätter sogleich ins erlebnishungrige Auge gefallen war: „Mitten in Graubünden erwartet Sie ein nicht alltägliches Erlebnis – Das Schlittelabenteuer Bergün. In stiebender Fahrt und auf knirschenden Kufen geht es durch die Kurven der Albulapaßstraße von Preda hinunter nach Bergün. Hier können Sie sich in den gemütlichen Gaststuben des Dorfes von der ,Strapazen‘ des Abenteuers erholen.“

Dazu ein Farbfoto, das eine lachende Familie – Papi, Mami, zwei Kinder und die Tante – bei der „stiebenden Fahrt“ in die Tiefe zeigt. Bildlegende: „Ein gemütliches Fährtchen für die ganze Familie oder eine Schußfahrt für Wagemutige: Schlitteln auf der für den Verkehr gesperrten Albulapaßstraße ist in jedem Fall ein unbeschwertes Vergnügen.“

Der Winter geizt mit Schnee. Feiertage und Werktage verschwimmen zu zeitloser Langeweile, über den Talniederungen hält sich zäh der Hochnebel. Genau die richtige Zeit also für das „Schlittelabenteuer Bergün“. Daß man dazu, etwa ab Konstanz/ Kreuzlingen, gut zweimal fünf Stunden mit der Bahn unterwegs ist, um am Ende gerade fünf Stunden lang in den Genuß von Sonne und Schnee zu kommen, darf einen nicht weiter schrecken. Schließlich darf auch die Bahnfahrt selbst durchaus zum „Erlebnis“ gerechnet werden.

Start in Konstanz 6 Uhr 20, ab Kreuzlingen 6 Uhr 24. Ist schon dieser frühe Zug nach Rorschach überraschend gut besetzt, darf auf der Strecke zwischen Rorschach und Chur bereits von maximaler Belegung gesprochen werden. Glücklich, wer noch einen Sitzplatz ergattert hat. Offenbar haben an diesem gräulichen Tag noch mehr Leute die Idee, der Tristesse heimischer Nebelmeere zu entfliehen.

Im Bahnhof Chur herrscht drangvolle Enge. Gleich zwei Züge der Rhätischen Bahn fahren in Richtung Bergün/Preda, beide proppenvoll. Wer keinen Sitzplatz mehr erwischt hat, tröstet sich mit dem Gedanken an die „stiebende Fahrt auf knirschenden Kufen“. In Preda, dem 1.788 Meter hoch gelegenen Ausgangspunkt der Schlittelbahn, drängen sich die Menschen vor einem Puppenhaus in Holzbauweise, der Bahnstation. Gut zweihundert Leute harren aus bei grimmiger Kälte, derweil drinnen ein völlig überlasteter Bahnbeamter reservierte Schlitten („Einplätzer Fr. 8,–, Zweiplätzer Fr. 10,– pro Tag“) austeilt, Billetts für die Schlittelbahn verkauft (Erwachsene Fr. 3,–, Kinder Fr. 1,50 pro Abfahrt) und immer wieder dieselben Fragen beantworten muß: „Isch de Schlitte mit em Halbtax nöd günschtiger?“ – „Git's chei Ermäßigung für'd Schlittelbahn mit em Halbtax?“ Nun wird auch klar, warum der Mann am Vortag telefonisch kaum zu erreichen war!

Nach gut einer Stunde habe ich endlich das Billett „Gebühr für die einmalige Benützung der Schlittelbahn Preda–Bergün Fr. 3,–“ und eiskalte Füße dazu. Nun könnte es losgehen. Doch das Abenteuer läßt noch ein wenig auf sich warten. Auf einer nur mäßig abschüssigen Straße muß der Schlitten etwa einen Kilometer gezogen werden. Ein buntes Volk von Schlittelpiloten – Japaner, Griechinnen, Italiener, Holländerinnen, Schweizer und Deutsche – ist da unterwegs. Eine nicht enden wollende Karawane mit Schlitten aller Größen und Preisklassen auf dem Weg ins Abenteuer. An einer schmalen Brücke staut sich die Menge. Eine Warntafel signalisiert, daß hier das „Erlebnis“ beginnt: „Auf den Vordermann achten! Bei Sturz sofort die Bahn verlassen: Geschwindigkeit anpassen!“

Sinnlos der Versuch zu warten, bis sich der Stau aufgelöst hat, bis man die Bahn für sich hätte! Ständig bringen neue Züge aus Richtung Chur wie aus Richtung Samedan Aberhunderte von Schlittelabenteuerhungrigen auf die Piste. Also: Augen auf und durch. Schnell zeigt sich, daß der Reiz nicht nur darin besteht, die Tücken der Bahn zu meistern, sondern mehr noch darin, im Kampf aller gegen alle mit dem eigenen Schlitten nicht unter die Kufen zu kommen, mit gekonnten Ausweich- und Überholmanövern die eigenen fahrerischen Qualitäten auf diesem Parcours unter Beweis zu stellen.

Die Bahn ist merklich vereist – nur wer am Rand fährt, wo noch etwas Schnee liegenblieb, hat Chancen, ohne Blessuren davonzukommen. Das erweist sich bereits an der ersten Spitzkehre, wo sich Trauben von Schaulustigen versammelt haben. Beim Versuch, in letzter Sekunde noch die Kurve zu nehmen, wird auch klar, warum. Die meisten kommen hier bereits viel zu schnell an und donnern mit Karacho gegen die Bande. Oder sie fahren in Knäuel ineinander verkeilter Schlitten, deren Lenker beim vergeblichen Versuch, durch überstürzte Bremsmanöver der unsanften Kollision mit der Absperrung zu entgehen, die Herrschaft über ihr Gefährt verloren hatten. Jede solche Karambolage wird von den Umstehenden mit Gejohle und Beifall quittiert. Aber auch die solcherart „Verunfallten“ scheinen ihr Los nicht allzu schwer zu nehmen. „Aaachtung!“ „Us de Bahn!“ Und zack! Wieder hat es gekracht. Eine Frau reibt sich den schmerzenden Hintern und will gerade von der Bahn humpeln, als ihr ein wildgewordener Schlitten in die Beine fährt und sie neuerlich zu Fall bringt. „Tschuldigung“ „Scusate, mi dispiace!“ Ihr Begleiter schafft es gerade noch, sie aus dem Gefahrenbereich zu zerren, bevor der nächste Pulk anrückt.

Aus dem „gemütlichen Fährtchen für die ganze Familie“ scheint an diesem Tag nichts zu werden. Eher schon gleicht das „Abenteuer“ einem Crash-Kurs für kufenbewehrte Autoskooter.

In Gedanken höre ich bereits den „Heli“ und frage mich, wie viele Wirbelsäulenverletzte wohl an diesem Tag ins Spital nach Chur pilotiert werden müssen. Doch ganz so schlimm kommt es nicht. Irgendwie scheint sich die Masse auf der fünf Kilometer langen Paßstraße – „Europas tollster Schlittelbahn“ – doch zu verteilen, und manche Karambolage sieht offenbar schlimmer aus, als sie ist. Liegt es daran, daß die Leute an diesem eiskalten Tag besonders gut gepolstert sind?

Unten angekommen, stellt sich fast so etwas wie Stolz ein: So ähnlich muß sich einer fühlen, der zum ersten Mal die Rallye Paris–Dakar erfolgreich absolviert hat. Sich nun in den „gemütlichen Gaststuben des Dorfes von den Strapazen zu erholen“ – davon kann freilich keine Rede sein. Sämtliche Gaststuben sind nebst den dazugehörigen Toiletten belegt, denn Tausende von Schlittlern und Skifahrern haben das idyllische Bündner Bergdorf an diesem Tag in Besitz genommen. Einheimische sind nicht zu sehen.

Wer soeben vielleicht noch geneigt war, das „Schlittelabenteuer Bergün“ als Wahnsinn abzutun, wird möglicherweise rasch entdecken, wie schnell einen dieser Wahnsinn selbst im Griff hat. Auf zur nächsten Abfahrt – schließlich will auch das BahnPLUS-Tagesangebot, das neben der „freien Benützung der Schlittelbahn beliebig viele Fahrten auf der Strecke Bergün–Preda“ enthält, nach Kräften ausgenutzt sein.

Der nächste „Schlittelzug“ nach Preda geht jedoch erst in einer dreiviertel Stunde. Die vielleicht fünfhundert Abenteurer, die an der Station Bergün bereits warten, scheint das nicht weiter zu stören. Man vertreibt sich die Zeit mit Cola, Bratwurst und Glühwein, derweil zwei Männer in Bündner Tracht mit prächtig geschmückten Pferden und Schlitten vergebens auf ein Geschäft warten. Eine Pferdeschlittenfahrt gegen das „Schlittelabenteuer Bergün“! Das scheint fast so aussichtslos wie der Versuch, mit „Badeferien am Baggersee“ gegen die Reize der Bahamas zu konkurrieren.

Als der „Schlittelzug“ endlich einfährt, spielen sich unbeschreibliche Szenen ab. Der Zug wird von vielleicht tausend Schlittlern regelrecht gestürmt – gut zweihundert bleiben bei diesem Aus-

schei-

dungskampf auf der Strecke und

mit ent-

täuschten Gesichtern zurück. „Etz spinnet's total“, meint ein Bahnarbeiter im orangegrellen Overall entgeistert. Selbst die Gepäckwagen sind gerammelt voll.

Erst bei der zweiten Abfahrt wird mir so richtig klar, worauf sich die Faszination dieses Abenteuers gründet. Wer die Bahn und ihre Tücken erst einmal kennt, wer um die gefährlichsten Kurven und die besonders vereisten Stellen weiß, der kann in überlegener Pose die „Schußfahrt für Wagemutige“ riskieren, ist ständig auf der „Überholspur“ und erlebt bei Geschwindigkeiten von gut dreißig Stundenkilometern ein völlig neues Gefühl nahezu müheloser Fortbewegung. Und wem die „gemütlichen Gaststuben des Dorfes“ kurz vor der Heimfahrt wenigstens noch einen Sitzplatz für eine „heiße Schoki“ bieten, den dürfte dieses „Tagesangebot“ der SBB vollends überzeugt haben. Es sei denn, er hat das Pech, ausgerechnet an einem 29. Dezember 1992 zugegriffen zu haben – an einem jener Tage mit Spitzenfrequenzen also, an denen gut fünftausend Schlittelhungrige ihr Erlebnis auf der Albulastraße suchen. Dann kann es schon passieren, daß man die Heimfahrt, zumindest bis Chur, zwischen Skiern und Schlitten eingekeilt, vor einer zugigen Toilettentür verbringt, daß die weiterführenden Züge mit Verspätung starten und man entsprechend auch die Anschlußzüge verpaßt – daß man also geraume Zeit später nach Hause kommt als fahrplanmäßig vorgesehen.

An solchen Spitzentagen gelingt den Bahnen offenbar eine erstaunliche Leistung: die Transformation des kollektiven Staus von Erlebniswünschen ins kollektive Stau-Erlebnis. Während jedoch der Autofahrer über den Verkehrsservice der Radioprogramme kostenlos und umfassend über jeden Stau auf Autobahnen und Bundesstraßen informiert wird, gibt es vergleichbare Informationsangebote für die Bahnen noch nicht. Welcher Verkehrsfunk wiese denn auf völlig überfüllte Züge oder überlastete Bahnstrecken hin und gäbe entsprechende Ausweichempfehlungen?

Bei Thusis überquert der Zug die Autobahn in Richtung San Bernadino. Auch dort herrscht reger Verkehr. Was würde wohl geschehen, wenn an einem solchen Tag, an dem die Bahnen offenbar an den Grenzen ihrer Kapazität angelangt sind, auch nur zehn Prozent derer, die gerade dabei sind, ihre Freizeitbedürfnisse per Automobil zu befriedigen, die Appelle zum „Umsteigen“ auf öffentliche Verkehrsmittel ernst nähmen? Der Betrieb der Bahnen müßte wohl vollständig zusammenbrechen.

Genau 140.400 „Schlittler“ haben die „Schlittelzüge“ der Rhätischen Bahn im „Rekordwinter“ 1991/92 zwischen Bergün und Preda befördert. Bei 56 Saisontagen ein Schnitt von etwa 2.500 pro Tag, an Spitzentagen über 5.000, an normalen Werktagen außerhalb der Schulferien auch nur tausend und weniger. Für die laufende Saison wird mit einem neuen „Rekord“ gerechnet. Ein Tag mit Spitzenfrequenzen und dazu noch eine vereiste Schlittelbahn – diese Kombination ist besonders für Familien mit Kindern gewiß nicht zu empfehlen. Und auch ein Montag nicht: da bleibt die Bahn nämlich ganztägig geschlossen.

Zu Hause angekommen, studiere ich die pastellblauen Werbeblätter mit den SBB-Tagesangeboten. Ob ich das nächste Mal nicht doch lieber zu einer „Pferdeschlittenfahrt“ starte? Zum Beispiel nach Pontresina/Roseg, wo sogar eine „Gerstensuppe als Zwischenverpflegung“ winkt?

Die Idee, mir eine Aktie der Rhätischen Bahn zu kaufen, um den nächsten Tagesausflug mit der fälligen Dividende zu finanzieren, habe ich jedoch wieder fallengelassen. Denn auch im vergangenen Jahr hat das Unternehmen erneut Verlust gemacht, 27 Millionen Schweizer Franken. Trotz des Supergeschäfts mit den „Schlittelzügen“.

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