piwik no script img

Wie weit ein Mann gehen darf

Meinungsfreiheit und Schutz vor sexueller Belästigung im Rechtskonflikt  ■ Von Nadine Strossen

Seit die Professorin Anita Hill den zukünftigen Obersten Richter Clarence Thomas sexueller Belästigungen beschuldigte, wird dem Tatbestand derartiger Übergriffe am Arbeitsplatz in den USA heute mehr Aufmerksamkeit gewidmet als früher. Dabei muß deutlich entschieden werden, ab wann eindeutig sexuell gefärbte Äußerungen und Verhaltensweisen als sexuelle Belästigung gelten müssen, ab wann sie Straftatbestände werden, weil sie das Recht der Frauen auf Gleichbehandlung am Arbeitsplatz verletzen und wann sie durch das verfassungsmäßige Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt sind.

Die amerikanische „Equal Employment Opportunity Commission“ (EEOC, Kommission zur Gleichstellung am Arbeitsplatz) hat 1981 zwar Richtlinien herausgegeben, die ein bestimmtes Verhalten am Arbeitsplatz als sexuelle Belästigung klassifizieren. Eine juristische oder akademische Debatte über das Maß, in dem diese Richtlinien durchgesetzt werden können, ohne das Recht auf freie Meinungsäußerung zu verletzen, hat jedoch kaum stattgefunden.

Nicht nur die Gleichstellung der Frauen am Arbeitsplatz ist ein wichtiges Ziel, sondern auch das Recht auf freie Meinungsäußerung. Die Geschichte lehrt zudem, daß die Gleichstellung der Geschlechter und das Recht auf freie Rede sich gegenseitig bedingen und verstärken und nicht etwa in einem antagonistischen Verhältnis zueinander stehen. Eine ernste Beschneidung der Meinungsfreiheit gefährdet daher nicht nur die Meinungsfreiheit selbst, sondern auch die Gleichstellung der Frauen.

Was erlaubt das Gesetz?

Wie jede sprachliche Beleidigung, wird auch eine sexistische Äußerung im allgemeinen durch das First Amendment (Grundgesetze der USA, U.R.) geschützt, solange sie sich an ein allgemeines Publikum in einer öffentlichen Situation richtet. Die gleiche Äußerung jedoch kann unter anderen Bedingungen durchaus als sexuelle Belästigung strafbar sein, zum Beispiel dann, wenn sie sich wiederholt direkt an eine bestimmte Person richtet, selbst an einem öffentlich zugänglichen Ort. An nichtöffentlichen Orten besitzt jedoch jede Person zusätzlich ein Recht auf Privatsphäre, das das Recht des Sprechers beschneidet und außer Kraft setzt. Dieses Recht ist dem Hausrecht gegenüber unerwünschten Besuchern vergleichbar.

Beschränkungen gelten auch dort, wo sich der Sprecher an eine zwangsläufig zu Zuhörern gewordene Gruppe wendet („captive audience“). Angesichts der hohen Priorität, die der Meinungsfreiheit eingeräumt wird, hat das Oberste Gericht den Begriff der zwangsläufigen Zuhörerschaft sehr eng gefaßt. Seinem Urteil zufolge trägt jeder außerhalb seiner eigenen vier Wände die Last des „Überhören- Müssens“ von Äußerungen, die er oder sie beleidigend findet. Trotzdem kann man natürlich argumentieren, daß ArbeitnehmerInnen, die sich zur Ausübung ihrer Arbeit an bestimmten Orten aufhalten müssen, ebenfalls eine „zwangsläufige Zuhörerschaft“ bilden.

Meinungsfreiheit und Gleichheitsgrundsatz haben im amerikanischen Recht denselben Stellenwert: beide Prinzipien werden gleich stark gewertet, und im Recht auf Gleichstellung am Arbeitsplatz wird der Geschlechtsunterschied nicht erwähnt. Dennoch erfordert eine wirkliche Gleichstellung mehr als die Nichtdiskriminierung im Einstellungsverfahren. Es reicht nicht, den Frauen die Türen zu Arbeitsplätzen zu öffnen – sie müssen dann auch die gleichen Partizipations- und Aufstiegschancen haben. Das US- amerikanische Rechtssystem hat daher anerkannt, daß ArbeitnehmerInnen vor Belästigungen geschützt werden müssen, die sich explizit auf ihre Geschlechtszugehörigkeit beziehen, und daß die verbotene Belästigung sowohl in Worten als auch in eindeutig sexuell konnotiertem Verhalten bestehen kann.

Während die allgemeinen Prinzipien der freien Meinungsäußerung und der Gleichstellung relativ klar sind, ist es häufig schwierig, sie in der Praxis gegeneinander abzuwägen. Der Entscheidungsspielraum in Situationen, in denen das Recht auf Meinungsfreiheit mit dem Verbot sexueller Belästigung kollidiert, ist beträchtlich. Wenn beispielsweise MitarbeiterInnen in der Mittagspause den Playboy lesen, muß das als Handlung, die ihre Persönlichkeiten oder Meinungen ausdrückt, geschützt werden, auch wenn sich andere MitarbeiterInnen davon belästigt fühlen. Wenn jedoch ein Abteilungsleiter sich einer Arbeitnehmerin gegenüber wiederholt sexuelle Bemerkungen herausnimmt und damit ihre Arbeitsfähigkeit beeinträchtig, darf dieses Verhalten nicht als sein Recht geschützt werden.

Die „American Civil Liberties Union“ (ACLU, Vereinigung für Bürgerrechte) hat die folgende Definition eines Verhaltens vorgeschlagen, das als unerlaubte Belästigung einer Person gilt, die zur Ausübung ihres Berufes an einen bestimmten Ort gebunden ist: „Sexuelle Belästigung liegt vor..., wenn Muster und Praktiken eines bestimmten sexuell konnotierten Verhaltens oder sexueller Äußerungen gegen bestimmte MitarbeiterInnen gerichtet sind, dieses Verhalten deutlich erkennbare Konsequenzen für die betroffene Person hat und sie von einer weiteren Ausübung ihrer Arbeiten abhält oder diese behindert. In der Regel ist unter solchen Konsequenzen ein Sachverhalt zu verstehen, der zu Entschädigungsansprüchen, zur Zahlung von Arbeitslosengeld oder zu einer Krankmeldung führt. Diese Richtlinien schließen verbale Belästigungen aus, die lediglich dazu beitragen, eine unangenehme Arbeitsatmosphäre zu schaffen.“

In der Geschichte der USA haben Maßnahmen, die Frauen am Arbeitsplatz „schützen“ sollten, letztlich immer nur ihre gleichwertige Beteiligung am gesellschaftlichen Prozeß verhindert. Übermäßig „schützende“ Restriktionen von sexuell gefärbten Bemerkungen am Arbeitsplatz würden lediglich diese Tradition fortsetzen.

Im schützenden Käfig

Zu Anfang dieses Jahrhunderts gab es in mehr als der Hälfte aller amerikanischen Staaten verschiedene Formen von Schutzgesetzen für weibliche Arbeitskräfte. Einige „schützten“ Frauen vor bestimmten Berufen, andere beschränkten ihre Arbeitszeit, und eine dritte Kategorie garantierte Frauen Vergüngstigungen wie Mindestlohn, Überstundengeld, Mittags- und Ruhepausen, die keinem ihrer männlichen Kollegen zustanden.

1974 urteilte das Oberste Gericht, daß solche Gesetze „Frauen nicht aufs Podest stellen, sondern sie in einen Käfig sperrten“. Selbst im günstigsten Fall haben sie den Frauen nur partiell genutzt, sondern sie, historisch gesehen, eher aus bestimmten Berufen ausgeschlossen. Hinzu kommt, daß die Doktrin von der Unvergleichbarkeit der Geschlechter keineswegs nur Vergünstigungen bewirkt, sondern sich hervorragend als Instrument gegen die Frauenrechtsbewegung einsetzen läßt.

Indem sie auf die besondere Rolle der Frauen in der Familie hinweisen, haben heute viele Arbeitgeber Frauen im gebärfähigen Alter von (oft hochbezahlten) Jobs ausgeschlossen, in denen sie Substanzen ausgesetzt wären, die einen Fötus schädigen könnten; dabei wird nicht gefragt, ob Frauen, die sich für eine solche Arbeit entscheiden würden, überhaupt Kinder planen oder weitere haben wollen. Eine protektionistische Gesetzgebung geht davon aus, daß Frauen keine Pläne machen oder Entscheidungen für sich treffen können, die auf Kenntnis und Information beruhen. Trotz ihrer oft gutgemeinten Intention verraten und verstärken solche Maßnahmen eine Auffassung von Frauen und ihrer Sexualität, die entmündigend ist und sich mit dem Gleichheitsgrundsatz nicht verträgt.

Es gibt einen weiteren Grund, warum die Beschränkung des Rechts auf freie Rede am Arbeitsplatz die Gleichstellung der Geschlechter eher verhindert als fördert: die Geschichte hat gezeigt, daß gerade die Meinungsfreiheit im Kampf um die Gleichberechtigung der Frauen besonders wichtig ist, ihre Unterdrückung jedoch schon immer ein politisches Mittel der antifeministischen Fraktion war. So galt von 1873 bis 1971 ein Gesetz, das vor allem Informationen über Empfängnisverhütung und Abtreibung unterdrückte. Und in den letzten Jahren gab es immer wieder Versuche, die feministische Zeitschrift Ms aus den Bibliotheken weiterführender Schulen zu verbannen.

Wer, wie die Feministinnen, für gesellschaftliche Veränderungen eintritt, muß ein besonders großes Interesse an der Erhaltung des Rechts auf freie Meinungsäußerung haben, denn neue Ideen sind immer zensiert worden. Die Kampagne zur Gleichstellung der Frau am Arbeitsplatz, einschließlich ihres Schutzes vor sexueller Belästigung, muß mit aller Kraft geführt werden – doch ihre Forderungen müssen mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung vereinbar bleiben.

Nadine Strossen ist Juraprofessorin an der New York Law School und Präsidentin der American Civil Liberties Union.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen