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Im Zeitalter des „Homo Somaliens“

Somalia wurde zum Codewort für ein Denken, das den Niedergang der Zivilisation beschwört: Drei Bücher über die neue Weltordnung, eine „Mondialisierung“, die neu und doch so alt erscheint  ■ Von Dominic Johnson

Ein „Eingeborener“, schrieb einmal Jean-Paul Sartre, hat „immer die gleichen Wesenszüge: er ist fahl, hinterlistig und stiehlt, lebt von nichts und kennt nur die Gewalt“. Das mißlungene Produkt einer auf halbem Wege abgebrochenen „Abrichtung“, „geschlagen, unterernährt, krank, verängstigt, aber nur bis zu einem gewissen Grad“, ist er „weder Mensch noch Tier“. In Deutschland hat dieses Wesen zur Zeit Konjunktur. Der auf TV-Bildschirmen zu sehende Somalier mit Gewehr, ein hungriger, skrupelloser Bandit, der Kindern den Brei wegschnappt und im Drogenrausch Furcht und Schrecken verbreitet – ist er nicht unübertrefflich in seiner Verknüpfung von Stolz und Elend?

Das Produkt, für das der homo somaliens wirbt – der globale Sozialstaat mit polizeilichen Befugnissen, geführt von den Vereinten Nationen –, ist in Mode geraten, und so ist in Deutschland ein Buch erschienen: „Somalia, ein Volk stirbt“, dessen Verfasser Walter Michler seit seinem erfolgreichen „Weißbuch Afrika“ als unermüdlicher Streiter für die Entwicklungspolitik bekannt ist. Michler hat auf seinen Somalia-Reisen viele Eingeborene gesehen; nur internationales Eingreifen, schlußfolgert er, kann das zerstörte Land wieder zur „politischen Wiedergeburt“ führen. Die soll durch eine UNO- Treuhandschaft eingeleitet werden, und das geht so: „Phase 5: Gewählte Regierung übernimmt Amtsgeschäfte, neue Verfassung tritt in Kraft.“ So einfach ist das.

Michlers Buch ist verdienstvoll angesichts der Komplexität des somalischen Dramas. Es ist aber auch ein Offenbarungseid für das deutsche Verlagswesen, daß dieses Buch, dessen Informationsgehalt den der Presse der letzten Monate kaum übersteigt, der derzeit einzige allgemein erhältliche Somalia- Titel auf deutsch ist. Wer mehr wissen will, ist auf Nuruddin Farahs Romane und englische oder italienische Fachliteratur angewiesen.

Wer vor der Lektüre Michlers noch nie einen Somalier leibhaftig vor Augen hatte, wird dies auch danach vermeiden wollen. Das vor allem in der einleitenden Reportage gezeichnete Bild ist von nachdrücklicher Hoffnungslosigkeit, die weder dem Verständnis dient noch das Argument stützt, daß ausländische Intervention daran etwas ändern könnte. Den Somaliern bleibt nur die Statistenrolle; sie sprechen wenig, sie sind Exempel des Versagens, hilf- und strukturlos. Aber sie sind es, denen „die Treuhandschaft jene fruchtbaren Rahmenbedingungen schaffen soll, damit übergreifende einheimische Strukturen erneut entstehen können“ – ein „Präzedenzfall, wie ein zerbrochener Staat wieder seine Existenzfähigkeit erlangen kann“.

Somalia, Paradigma des Chaos– und seiner Überwindung? Die Frage ist doch weniger, ob die nun stattfindende Intervention das Land auf den richtigen Weg führt, sondern vor allem, ob es generalisierbare Lösungen für solche Krisen gibt. Das neue Buch des ägyptischen Entwicklungstheoretikers Samir Amin, „Das Reich des Chaos“, kann in diesem Zusammenhang als Versuch gelesen werden, aus Zweifeln ein Weltbild zu bauen. Amin, dessen Lebenswerk einen grundsätzlichen Kulturpessimismus in die Form marxistischer Wirtschaftsanalyse gießt, konstatiert hier die Spaltung der Dritten Welt. Ein rapide wachsender und industrialisierender Teil steht den klassischen, zentralen Industrieländern als „Peripherie“ gegenüber; der Rest, eine „Vierte Welt“, geprägt von einer „Geschichte der wilden Zerstörungen“, fällt leider aus Rentabilitätsgründen aus der Weltgeschichte heraus – „ein Mensch als Arbeitstier wird immer mehr kosten, als er einbringt“, schrieb einmal Jean-Paul Sartre. Geschichte spielt sich fortan für Amin als Prozeß der „neuen Mondialisierung“ ab, in den Polarisierungen zwischen Industriestaaten der Ersten und Dritten Welt, wo der Großteil des Südens nicht mehr vorgesehen ist.

Schon vor fünf Jahren, in seinen Arbeiten zum „Eurozentrismus“, beklagte Amin die weltweite „Homogenisierung durch Imitation und Anpassung“ und die „eurozentrische Deformation, welche die kapitalistische Kultur kennzeichnet“. Folglich ist für ihn auch heute die „Einmischung des Nordens in die Angelegenheiten des Südens“ kein zivilisationsstiftender Akt, sondern schlichtes „Management des Unerträglichen“.

Amin der Melancholiker, Michler der Optimist – zwei Weltsichten, deren Wechselwirkung gerade in der Interventionsdebatte brisant wird. Es war das Jubiläumsjahr 1992, das den Anlaß zu einer gründlichen und noch nicht beendeten europäischen Introspektion geboten hat, auch wenn von den zahllosen Neuerscheinungen anläßlich des 500. Kolumbus-Jahrestages nur wenige auch noch in diesem Jahr gelesen werden. Eine davon ist aber zweifellos „Wilde Kälten 1492: Die Entdeckung Europas“ des Philosophen Helmut Reinicke. Untersucht wird nämlich nicht bloß die Tragödie der Neuen Welt, sondern die darauf folgende Umwälzung der europäischen Zivilisation. „Die Entdeckung jenes Fremden profaniert das Abendland“, schreibt er und entwirft ein Panorama der Entwicklung des europäischen Subjekts, das immer wieder neue Erkenntnis sucht und Eigenes verwirft. Amerika wurde unterworfen und zur Wildnis gemacht, Europa wurde mächtiger – und im Weltmaßstab kleiner; die Zerstörungskraft der Kolonisation kehrte als „wilde Kälte“ nach Europa zurück. „Nicht nur für jenen Indianer, der zum ersten Mal einen Europäer sah, war dies eine böse Entdeckung. Auch für den Europäer ist der Vollzug seiner Selbstentdeckung eine grauenvolle Geschichte.“

Reinicke verwendet leider viel Raum für die Beschreibung der bekannten kolonialen Blutspur, was sein eigentliches Anliegen – die Geburt des neuzeitlichen Europa aus dem Geiste des Kolonialismus– streckenweise in den Hintergrund drängt. Denn interessant ist ja nicht das Opfer, das immer auf dieselbe Weise leidet, sondern der Täter, der die Wirkung seiner Taten nicht kennt. Reinickes Helden sind begierig, listig und dumm; sie machen Geschichte, aber nicht die, die sie denken; sie erobern andere und zerstören sich selbst; ein Zwiespalt wächst zwischen denen, die Kontinente umpflügen, und denen, die daraus Weltbilder machen. Bewußtsein und Handeln trennen sich, die Moderne entsteht. Waren nicht auch Kant und Hegel passionierte Leser von exotischen Reiseberichten?

In ihrer Hinterlist und Verzweiflung ähneln die dummen Helden auf erstaunliche Weise dem Fernsehprodukt der Gegenwart, dem homo somaliens. Wie Michlers Somalier, die noch die Telefonkabel Mogadischus zwecks Verkauf der Kupferleitungen aus dem Boden reißen, sind Reinickes Europäer, die „wie Affen“ nach dem Gold der Neuen Welt gieren, eine Gefahr für die über ihnen stehende Zivilisation. Diese muß, gemeinsame Konsequenz, verordnet werden. „Ferner verbieten wir auch allen Hirten und Schäfern den Gebrauch der Gewehre, als Büchsen, Degen, Türkische Säbel und Spitzbarden, wie auch alle Verbündnis und Innungen, deren sie sich an eines Theils Orten ganz frevelhafter, boshafter und strafbarer Weise unterwunden“, zitiert Reinicke eine Verordnung aus Neubrandenburg im Jahre 1620. Sie könnte auch aus Mogadischu 1993 stammen. Wie neu ist sie eigentlich, die „Mondialisierung“? „Und dennoch“, schrieb einmal Jean-Paul Sartre, „trotz so vieler Anstrengungen ist das Ziel nirgends erreicht“. Die Abrichtung des Menschen zum Menschen wird wohl auch in Somalia am Menschen scheitern.

Walter Michler: „Somalia, ein Volk stirbt: Der Bürgerkrieg und das Versagen des Auslands“. Dietz-Verlag Köln, 128 Seiten, 12,80DM

Samir Amin: „Das Reich des Chaos: Der neue Vormarsch der Ersten Welt“. VSA-Verlag Hamburg, 24,80 DM

Helmut Reinicke: „Wilde Kälten 1492: Die Entdeckung Europas“. IKO-Verlag; alle Bücher 1992

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