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Es kann alles noch viel schlimmer werden

Serie: Der Verkehr und die Zerstörung der Stadt (11. Folge)/ Die Stadt hat nur dann eine Zukunft, wenn sie in kleine Zellen aufgeteilt wird und der individuelle Autoverkehr endlich seine Kosten tragen muß  ■ Von Hans-Joachim Rieseberg

Ein Kritiker hat in dieser Zeitung dargestellt, daß es das von mir prognostizierte Verkehrschaos gar nicht geben wird. Für das derzeitige Berlin will ich ihm da sogar recht geben. Es ist in der Tat so, daß in Berlin für den Individualautomobilisten immer noch exzellente Verkehrsbedingungen herrschen. In anderen westdeutschen Großstädten, vor allem im Rhein- Ruhr- und im Rhein-Main-Kreis, aber noch schlimmer in Paris, in London oder Tokio gibt es noch wesentlich schlimmere und in unseren Augen wirklich chaotische Verkehrsverhältnisse auf den Straßen. Und deshalb kommen die Planer dieser Metropolen ausgerechnet hierher, um hier zu lernen. Widersprüchlicher kann es im Grunde nicht sein.

Es kann noch schlimmer kommen

Trotzdem haben wir immer noch vergleichsweise ideale Parkbedingungen, ideale Durchfahrtsmöglichkeiten durch die Stadt, obwohl der einzelne die Zeiten, die er im Stau verbringt, heute schon als belastend ansieht. Aber wir wissen als Experten, daß es noch viel schlimmer kommen wird und daß wir auch nichts tun können, um dieses Chaos aufzuhalten, denn wir werden oder Sie werden zwangsweise oder fast zwangsweise weiter Straßen bauen, weiter Engpässe beseitigen, weitere Ampeln aufstellen und hoffen, daß dadurch irgend etwas geregelt wird.

Der hinzukommende Verkehr wird Ihnen aber alle diese Regelungen buchstäblich auffressen. Und wenn die Engstelle am Sachsendamm beseitigt ist, dann werden die Staus nicht kürzer, sondern noch länger werden, und Sie werden die Meldung „Zwischen Essen und Dortmund gibt es einen 30 km langen Stau – Umleitungsempfehlungen können nicht gegeben werden“ auf Berlin übertragen können. Alle sitzen wie die Lemminge vor dieser Entwicklung und tun immer schneller das immer Falschere.

Was könnte also getan werden? Wir akzeptieren zunächst einmal dieses heraufziehende Chaos und erkennen, daß wir es in nächster Zeit nicht in den Griff bekommen können. Wir konzentrieren unsere gesamten Baumaßnahmen auf den öffentlichen Nahverkehr, wir investieren nichts mehr in den Ausbau der Straßen oder der Stadtautobahnen. Wir zerlegen die Stadt in einzelne kleine Gebiete, die zu autonomen Verkehrsbereichen erklärt werden. Diese Autonomie bezieht sich auf die Ebene des Individualverkehrs, also Fußgänger, Fahrradfahrer und Autos.

Die einzelnen Gebiete werden relativ hermetisch gegeneinander abgeschottet, das heißt, der Individualist kann sich in seinem Gebiet bewegen, muß aber riesige Umwege in Kauf nehmen, um in ein anderes Gebiet hineinzukommen. Man zerlegt also eine große Stadt in eine Zonen- oder Zellenstruktur. Das sind fast biologische Modelle, die von einem dezentralen Ansatz ausgehen. In der Medizin ist das inzwischen auch ein erprobtes Modell. Betäubt wird auch nicht mehr der gesamte Organismus, sondern nur örtlich.

Die Stadt wird zerlegt

Und das muß man übertragen auf die Verkehrsplanung. Das heißt, wir zerlegen auch eine Millionenstadt in einzelne Dörfer. In diesen einzelnen Dörfern gelten bestimmte gleichbleibende Regelungen, örtliche Verkehrssatzungen, die sogar teilweise unterschiedlich sein können. Dabei müßte es einige Grundsätze geben, nämlich keine Parkplätze mehr auf öffentlichem Straßenland, örtlich angepaßte Geschwindigkeiten, die teilweise noch unter die 30 Stundenkilometer zurückgehen, und eine Veränderung der Straßenhierarchie, das heißt keine Durchfahrts- und Verbindungsstraßen mehr, sondern nur noch ganz wenige Magistralen – dafür würde die Stadtautobahn in Berlin herhalten – und ansonsten ein gleichberechtigtes Straßensystem. So wäre beispielsweise dann der Kaiserdamm genauso eine Wohnstraße wie die Hauptstraße oder die Karl-Marx- Allee. Sie hätte den Rang der Windscheidstraße in Charlottenburg oder der Badstraße im Wedding.

Und lediglich dort, wo in der Übergangsphase, die man wahrscheinlich mit 10 bis 20 Jahren annehmen muß, ein überörtlicher Verkehr im individuellen Kraftfahrzeug-Bereich aus Kapazitätsgründen aufrechterhalten werden muß, also auf der Stadtautobahn, werden höhere Geschwindigkeiten und anderes Fahrverhalten zugelassen.

Das Auto muß die anfallenden Kosten tragen

Das Konzept hat zur Folge, daß der Autoverkehr mit den Erschwernissen belastet wird, die er eigentlich hinnehmen muß: lange Wege, geringe Geschwindigkeiten dort, wo der Autoverkehr auf Fußgänger und Fahrradfahrer trifft, und Überwälzung der Kosten auf den Verursacher im Bereich des Parkens und der Benutzung der Straße. Damit würden die Vorteile, die das Auto heute innerhalb eines Stadtgebietes hat, nämlich Geschwindigkeit, Verfügbarkeit und Privilegien, entfallen. Im Grunde ist dies ein echtes Marktmodell. Der Liter Benzin kostet 5 DM, der Parkplatz 400 bis 500 DM und die Straßenbenutzungsgebühr entsprechend. Damit verbliebe dem Auto ein ganz geringes Marktsegment: einmal im Luxusbereich, wo Autonarren sich noch Autos halten, und zum anderen in dem Bereich, wo Autos wirklich benötigt werden, nämlich im Lieferbereich, bei Ärzten, der Feuerwehr und in geringem Umfang auch bei der Polizei. Die Autokriminalität und die Verkehrsregelung fielen ja weg. Der individuelle Verkehr per Auto, der sich auch bei vielen Autobefürwortern in der Regel heute schon an der Notwendigkeit für Transport von Behinderten oder individuellem Warentransport orientiert, könnte mit einem Leihwagen- und Leasingsystem erledigt werden oder mit Taxis und Lasttaxis.

Der Lieferverkehr würde dann kein Problem mehr darstellen, weil die Straßen von dem motorisierten Individualverkehr radikal entlastet würden. Für den Fernverkehr würde in diesem Falle keiner sich mehr ein eigenes Auto halten, sondern entweder gleich auf die Bahn oder in Extremfällen auf das Flugzeug umsteigen oder sich dort, wo er es benötigt, einen Leihwagen nehmen. Der Verkehrsanteil des Automobils würde im indiviuellen Bereich von jetzt geschätzten 48 Prozent auf wahrscheinlich fünf Prozent sinken, und der Lieferverkehr würde von der Straße, also vom Lkw, zum größeren Teil auf die Schiene verlagert werden.

Die Stadtviertel als Sackgassen

Die einzelnen Stadtviertel werden in einem solchen System als große Sackgassensysteme ausgebildet und die vorhandenen Parkplätze und Parkhäuser für die Leihwagen zur Verfügung gestellt, die von Unternehmen bewirtschaftet werden. In einem solchen Modell könnten Sie nicht ohne weiteres aus der City von Wilmersdorf in die City von Charlottenburg fahren, sondern Sie müßten lange Umwege in Kauf nehmen, um dort hinzukommen.

Sie würden sich also entweder klarmachen, daß das sich nicht lohnt, oder Sie würden sehr viel Zeit verschwenden. Damit würden Sie aber immer noch nicht sicher sein, daß Sie dort, wo Sie hinkommen, auch wirklich einen Platz finden, um Ihr Fahrzeug abzustellen, weil dieser Platz entweder sehr teuer oder gar nicht vorhanden wäre. Da ein solches System die Straßen für den Individualverkehr und für den Fahrradverkehr freimacht, würden Sie entweder das schnelle Individualverkehrssystem oder das Fahrrad auch wirklich nutzen können. Man brauchte wahrscheinlich zehn Jahre, um dies in mehreren Stufen durchzusetzen. Man müßte eine kommunale Verkehrsabgabe errichten, die in etwa den jetzigen Aufwendungen gleichkommt, die für das Automobil aufgebracht werden.

Diese individuelle Verkehrsabgabe wäre aber auf Dauer wesentlich niedriger anzusetzen als die für das Automobil, weil in den jetzigen Abgaben versteckt auch die Schäden enthalten sind, die das Automobil anrichtet. Die Kosten für diese Schäden würden auf mittlere Sicht entfallen, und insgesamt würden sich für den einzelnen Bürger die Kosten für seine Mobilität ganz wesentlich senken.

Das Problem dabei ist, daß wir zur Zeit in mehrere große Systeme investieren: in den öffentlichen Nahverkehr, in einen gleichermaßen ausgebauten motorisierten individuellen Nahverkehr und in Zwischenformen, die das Miteinander dieser beiden Verkehrsarten regulieren. All dies schlägt sich als Kosten nieder und wird bisher klaglos fast von der gesamten Gesellschaft unabhängig von dem Verschuldensprinzip finanziert. Klar ist dabei, daß ein Überleben in einer so großen Stadt wie Berlin auf Dauer mit dem Automobil nicht möglich ist. Alle Übergangsformen, die zur Zeit angedacht werden – Elektroautos, Autos mit geringem Benzinverbrauch, Stadtautos und Solarautos – werden das Problem nicht lösen. Schwierig ist es aber, dieses klarzumachen. Dagegen stehen einfach die unterschiedlichen Interessen. Die auffälligste Gruppe sind die Autobauer. Erstens leben sie davon, und zweitens leben eine Menge Bürger davon. Diese Interessengruppe ist zunächst einmal viel ernster zu nehmen als die Interessengruppe derer, die das Auto fahren, weil die Interessen derer, die das Auto fahren, viel leichter anders zu befriedigen sind als die derer, die das Auto produzieren. Ich will versuchen, dies noch einmal deutlicher zu machen.

Keinerlei Verständigungsbemühungen

Die Interessengruppe derer, die das Auto fahren, wird heute mehr oder weniger nur vom ADAC vertreten, und zwar mit durchweg irrationalen Gründen. Es wird auch keine Abwägung der Gründe vorgenommen, sondern eine relative Einseitigkeit der Überbewertung der individuellen Freizügigkeit, die so in den Ballungsgebieten heute mit dem Auto gar nicht mehr gegeben ist. In den meisten Fällen ist es gar keine Freizügigkeit, sondern eine einseitige Abhängigkeit einer sogenannten erzwungenen Mobilität. Das heißt, viele haben gar nicht mehr die Wahl, ohne weiteres auf das Auto zu verzichten, sie machen sich das aber nicht klar. Ganz im Gegenteil, sie verdrängen dies, indem sie glauben, es mache ihnen Spaß, Auto zu fahren. Es macht ihnen auch keinen Spaß, im Stau zu stehen, aber sie nehmen es hin, weil sie glauben, sie hätten keine Alternativen, und wenn sie in unsere miesen öffentlichen Nahverkehrssysteme steigen, dann haben sie auch keine.

Das heißt, unsere gesamte Verkehrsplanung steckt in einer tief festgefahrenen Krise, und die Automobilbenutzer haben einen Verein zu ihrem Sprachrohr gemacht, der mit falsch verstandenen ideologischen Parolen populistisch Leute in eine falsche Richtung lenkt. Da der Verein sehr groß ist und da er seine Mitglieder aus allen Parteien, vor allem den beiden großen Parteien bezieht, ist fast kein Kraut in einer Demokratie gegen einen solchen Verein gewachsen. Es ist zur Zeit schwer vorstellbar, daß eine solche Veränderung, wie wir sie aus den Sachzwängen, die sich uns stellen, brauchen, auf demokratische Weise herbeizuführen ist.

Autofahren macht keinem mehr Spaß

Die andere Interessengruppe, nämlich die Interessengruppe der Automobilhersteller und ihre Angestellten und Arbeiter, ist von dem Problem im eigentlichen Sinne viel schärfer betroffen, denn die Umwandlung unserer automobilen Gesellschaft in eine andere würde zweifelsohne eine totale Umstrukturierung der Arbeitsplätze hervorrufen und weit schärfere Strukturkrisen in der Wirtschaft produzieren als der Umbau der Rüstungsindustrie durch Konversion.

Es würden nämlich nicht alle Arbeitsplätze, die man heute in der Automobilindustrie hat, in den Bereich des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs umgelagert werden können. Das heißt, es würden Arbeitsplätze wegfallen, weil soviel Nachfrage nach Verkehr nicht vorhanden ist, wenn man ihn mit einem gut ausgebauten öffentlichen Nah- und Fernverkehr abwickelt. Abhilfe gibt es paradoxerweise, weil die Automobilindustrie sowieso in der Krise steckt und über kurz oder lang dem Konkurrenzdruck aus Japan nicht wird standhalten können. Es besteht also eventuell die Hoffnung, daß dieses ein Teil unseres Problems löst und daß damit der Druck dieser Interessengruppe auf die Verkehrsplanung schwächer und schwächer wird und daß wir damit eventuell noch in eine vernünftige Verkehrsplanungsdiskussion kommen können.

Wir fahren vor die Wand

Oder aber wir schaffen dies nicht, wir fahren an jeder Stelle planerisch gegen die Wand und erproben die Katastrophenszenarios. Die großen Automobilindustrien, die es in Deutschland gibt und die weitestgehend die wirtschaftspolitischen Rahmenrichtlinien bei den Politikern bestimmen, sind zur Zeit zu einem Umdenken nicht zu bewegen, und sie werden in weiten Teilen dabei von den Gewerkschaften unterstützt. Da dies so ist, wird es mittelfristig keine vernünftigen Diskussionen, sondern nur harte Konfrontationen geben. Verkehrsplanerisch ist das Schattenboxen, aber keine Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Sachzwängen. Als Planer befindet man sich also in der Situation, mehr oder weniger Alibis zu liefern, kabarettistische Einlagen zu formulieren oder Platzhalterdiskussionen zu führen, das heißt, heute etwas zu sagen, um in 15 Jahren hämisch dazustehen und zu sagen, seht Ihr, das habe ich Euch doch vorhergesagt.

Das ist nicht befriedigend, aber es scheint im Augenblick keine Alternativen zu geben. Auch in Westdeutschland, wo die Zwänge aus den Stadtsituationen, aus dem Motorisierungsgrad, aber auch aus dem Zerstörungsgrad der Städte schon viel größer sind, sind bei weitem keine wegweisenden Modelle erprobt, sondern in der Regel nur besänftigende Anpassungsstrategien entwickelt worden. Insoweit ist also Verkehrsplanung heute nur ein Abbild von weiten Teilen der gesamten Umweltpolitik, Anmerkungen zu einem Thema, Warten auf die Katastrophen und Hoffen auf unwahrscheinliche Zufälle, und Trost gibt allenfalls die Erkenntnis aus der Chaostheorie: Der Flügelschlag eines Schmetterlings kann das Wetter verändern.

Dezentrale Stadt, zentrale Stadtbahn

Neben dieses System der dezentralen Stadtteilgliederung muß ein zentrales System auf der Grundlage der Straßenbahn oder der Stadtbahn installiert werden. S- Bahnen und U-Bahnen sind die großen Verteilungssysteme für den öffentlichen Nahverkehr, während die Straßenbahn eigentlich fast in jede kleine Straße hineinreichen kann. Mit einem solchen System, das billig, schnell zu bauen, umweltfreundlich ist und heute auch sehr leise gebaut werden kann, wäre es möglich, innerhalb von fünf Jahren sämtliche Verteilprobleme der Mobilität in Berlin zu lösen. Finanziert werden könnte das, wenn man auf den Tiergartentunnel und den Tunnel am Potsdamer Platz verzichten würde.

Die Widerstände, die die BVG und der Berliner Senat gegen eine solche Planung haben, sind irrational und grenzen an Wahnsinn. Denn während man in anderen Bereichen der Verkehrsplanung noch eine gewisse Unaufgeklärtheit voraussetzen kann, weil vieles doch viel schwieriger zu verstehen ist, vieles wieder neu gelernt werden muß, so gibt es in dem Bereich der Straßenbahnplanung, der Kosten für dieses System und des Nutzens eigentlich keine Zweifel mehr. Hier kann nur vorsätzliche Bösartigkeit unterstellt werden oder totale Ignoranz.

Diplom-Ingenieur Hans-Joachim Rieseberg beschäftigt sich mit Architektur, Stadt- und Verkehrsplanung und ist Autor mehrerer Bücher über unsere zerstörerische Lebensweise; kürzlich erschien „Arbeit bis zum Untergang“ im Raben- Verlag.

Die nächste Folge erscheint am Montag kommender Woche.

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