: Projektionsfläche Mythos
■ Der Bremer Maler Thomas Neev verarbeitet den sumerischen Gilgamesch-Mythos
Mythen aus vergangenen Zeiten bieten ideale Projektionsflächen, vieles ist historisch vage. Der Bremer Autodidakt und Maler Thomas Neev hat mit seinem Ausstellungsprojekt „Gilgamesch“ im Neustädter Bahnhof eine persönliche Interpretation des vorbiblischen Gilgamesch-Mythos erarbeitet. Lyrisch und malerisch hat er sich der Überlieferung angenähert, sie aktualisiert und auf heutige menschliche Empfindungen „übersetzt“. Sagt er.
Zwölf Bilder hängen im Neustädter Bahnhof aus, das ist kein Zufall: Auf zwölf Tontafeln, keilbeschriftet, wurde die Geschichte des Gilgamesch aus der Zeit 2.700 Jahre vor der christlichen Zeitrechnung überliefert. Zwölf Tafeln: Tempera, Kohlekrümel und Sägespäne auf Spanholz, mal dick, mal dünn aufgetragen, sind das Ergebnis seiner dreijährigen Auseinandersetzung mit dem Mythos vom tyrannischen Sumerer-König Gilgamesch, Herrscher in der Stadt Uruk, am Ufer des Euphrat im heutigen Irak gelegen.
Thomas Neev hat den Mythos studiert, in einer Nische der Ausstellungshalle stehen Bücher, die ihm auf der Suche nach Interpretationen geholfen haben. Vom Reclam-Heftchen „Gilgamesch“ über die gleichnamige Science-Fiction bis zu Gerda Lerners „Entstehung des Patriarchats“ ist sein Material hier versammelt, die ägyptische Oper „Gilgamesch“ tönt im Hintergrund. BesucherInnen dürfen blättern, sich den Mythos selbst näher bringen. Wer lieber beschriebene Täfelchen liest, kann auch das tun: ausgerissene Reclam-Seiten kleben auf Tontäfelchen, zahllose, so daß man sich fragt, wie es kommt, daß nur zwölf Tafeln gefunden wurden.
Allein aus Neevs Malerei läßt sich der Inhalt der Legende nicht erschließen. So eigenwillig er seine Empfindungen in Lyrik ausdrückt, so drastisch setzt er sich mit Pinsel und Spachtel von den belegten Sachverhalten aus der mesopotamischen Geschichte ab. So bleiben von geschichtlicher Überlieferung nur Gefühlswerte. Wirre Farbkompositionen, wie Zerreißproben, zunehmend plastisch, sind herausgekommen. Vom Figurhaften der Keilschrift sind die Bilder ebenso weit entfernt wie von der Erzählung historischer Zusammenhänge. Wer vor den heutigen Bildertafeln steht, ahnt, wie sich die ersten neuzeitlichen BetrachterInnen babylonischer Hieroglyphentafeln gefühlt haben müssen: Es ist klar, diese Tafeln haben Bedeutung, nur — welche?
Mit dieser Frage läßt der Künstler sein Publikum nicht allein: Seine Lyrik, unterschrieben mit dem Text der jeweiligen historischen Tafel, assoziiert heutige Bezüge zum Mythos von Gilgamesch. Dem kämpferischen Herrscher, der dennoch nicht das ewige Leben erhielt. ede
Die Ausstellung im Neustädter Bahnhof ist noch bis zum 28. Februar zu sehen, jeden Donnerstag, Samstag und Sonntag von 14 — 19 Uhr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen