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„Ich lerne tauchen“

Einsame, ratlos-vergrübelte Männer: Anne Hoffmann hat am Volkstheater Rostock zwei Monologe von Lothar Trolle inszeniert — „Ein Vormittag in der Freiheit“ und „Die Stunde des Herrn“ (Uraufführung)  ■ Von Peter Laudenbach

In der DDR galt der Dramatiker Lothar Trolle als ein Geheimtip, seine Stücke waren für die offizielle Kultur unverdaulich und konnten erst im Endstadium des Arbeiter- und Bauernstaates an kleinen Theatern inszeniert werden. Trolle vermutet hinter dieser Abwehr, daß „das Clowneske“ seiner Texte für die Kunstaufseher „ungewohnt“ gewesen sei. Der gesamtdeutsche Theaterbetrieb reagiert ähnlich schwerfällig auf Trolles doppelbödige Spiele: Bisher wagten sich nur zwei große Häuser an Trolles Texte.

Frank Castorf zeigte 1992 am Deutschen Theater „Hermes in der Stadt“ als eine melancholische Revue, die Trolles Lakonie mit allerlei kulinarischen Ornamenten, von einem Tangospieler bis zu einem Fernseher auf der Bühne, verzierte.

Eschbergs Frankfurter Uraufführung von „Das Dreivierteljahr des David Rubinowicz“ scheiterte 1991 an den hilflosen Mätzchen des Regisseurs, ein oberflächlich- aufgemotztes, in Bildern schwelgendes Spektakel.

Auf eine völlig andere, weit intelligentere Weise hat jetzt die junge Regisseurin Anne Hoffmann zwei Monodramen Trolles im kleinen Haus des Rostocker Volkstheaters inszeniert: Ihre Regie konzentriert sich ganz auf den Text und eine genaue Figurenzeichnung. Beide Monologe zeigen einsame, ratlos-vergrübelte Männer, die ihre Biographien und Wunschbiographien durchkauen. Ihr Selbstgespräch führt in zwei Epochen deutscher Geschichte: einmal in die Zeit des Faschismus, das andere Mal in die selig verstorbene DDR. In beiden Stücken sprechen Mitläufer, nicht Outlaws; aber Trolle interessieren nicht wohlfeile Denunziationen, dafür ist sein Blick in die Geschichte zu genau, auch zu menschenfreundlich: Er zeigt die Täter als traurige Gestalten, die an ihrem vertanen Leben zu ersticken drohen.

Der erste der beiden Monologe erlebt in Rostock seine Uraufführung. Ein früherer Versuch der Berliner Volksbühne, die Komödie auf die Bühne zu bringen, scheiterte 1989 an den Zeitläuften: der Regisseur setzte sich kurz vor Probenbeginn in den Westen ab. „Die Stunde des Herrn“ ist die Nachmittagsstunde eines alten Mannes, der sich wie Oblomov auf seinem Sofa verkriecht. Christian Gätjens Bühne kommt mit einfachen Zeichen aus: Drei blaue Tücher als Wände, davor ein rotes Sofa, auf dem unter einer Decke der Alte (Erhard Schmidt) liegt.

Der Schlafende erwacht, blinzelt aus der Decke hervor ins Publikum, um sich sofort wieder zu verkriechen, zusammengekrümmt unter der Decke wie ein Embryo. Das Spiel mit der Decke nimmt Schmidt später wieder auf: Er zieht sie über den Kopf oder spannt sie wie einen Theatervorhang mit beiden Händen vors Gesicht. Mit solchen dezenten wie prägnanten Zeichen macht die Regisseurin den Zustand des Alten sichtbar: Zwischen Wegdämmern und Leben-wollen, versunken in ein langes Selbstgespräch, das keinen Kontakt mehr zur Außenwelt sucht. – Das hat nichts Larmoyantes, der Alte verwendet sein Elend als Rohstoff für seltsame Spiele. So gratuliert er sich zu dem „Kunststück, die untersten drei Knöpfe deines Hemdes zuzuknöpfen“, kichernd, als wundere er sich darüber: Jemand, der in der Einsamkeit gelernt hat, mit sich selbst zu spielen. Keinen Augenblick wird Schmidts Spiel sentimental oder verschwommen selbstmitleidig. Wir werden hineingezogen in sein zwischen Erinnerungen, wirren Phantasien und wütenden Ausbrüchen hellwaches, etwas verrücktes Grübeln: „Um mir eine Entscheidung abzunehmen, verlange ich ja nicht gleich die Sintflut... bei unsereinem reicht bereits eine Dosis Rattengift.“

Die privaten Erinnerungslabyrinthe brechen auf in kollektive Räume, plötzlich hört man nicht mehr den verdrehten Gedanken eines alten Mannes, sondern Schreckensberichten von Verbrechern seiner Generation zu: „Das Ich in diesem Textteil ist kollektiv“ (Heiner Müller, in einem anderen Kontext). Gespenstisch daran ist, daß nicht klar wird, ob der Alte von Kriegsverbrechen spricht, an denen er teilnahm, oder ob „all die anderen Filme, die man im Kino gesehen hat“ die Erinnerungen überlagern. Am Ende stürzen die Epochen ineinander, aus den Kriegsszenen flieht der Alte in Revolutionsphantasien, die ihm helfen, endlich doch noch aufzustehen: Nachdem das Winterpalais gestürmt wurde, erhebt sich mit den Volksmassen auch der müde Rentner. Die Rettung kommt wie der Beginn eines neuen Lebens mit der Kunst: Der Alte summt und singt Debussy, springt dabei umher und verkündet fröhlich seine Strategie, mit den Katastrophen der Zeit umzugehen: „Sollen sie sich doch zu Tode trampeln beim Kampf um einen Platz auf dem Rettungsboot, ich lerne tauchen.“ Ein anarchistisches Minimalprogramm. Trolles alter Mann ist nicht die DDR-Variante „sozialkritischer“ Rentnerstücke (wie Turrinis „Sibirien“ zum Beispiel), sondern eine menschenfreundlich- komödiantische Antwort auf Becketts verzweifelte Existenzclowns.

Auch im zweiten Stück des Abends versucht ein Unglücklicher die leeren Stunden mit Selbstgesprächen totzuschlagen und träumt von der Rettung durch die Kunst: Lehmann „vorn mit ,L‘ wie Lenin“) war Kombinatsdirektor und erlebt nach 1989 die Arbeitslosigkeit als Horrorfilm. Trolles sarkastischer Stücktitel „Ein Vormittag in der Freiheit“ kommentiert trocken die aufplatzenden Lebenslügen: „Die Funktionäre erleben jetzt den Existentialismus. Sie merken: ,Ich kann machen, was ich will, ich bin immer noch frei.‘“ Trolles Blick darauf ist eher neugierig als höhnisch: „Ich frage mich: Was machen die jetzt? Ich finde einfach, daß man, wie Foucault sagt, diesen Leuten, den Wahnsinnigen, ein Podium bieten sollte.“

Die Inszenierung beginnt leise. Lehmann (Jürgen Reimer) sitzt im Bademantel in einem Ohrensessel, vor sich ein Tischchen mit Kaffeegeschirr, neben dem Sessel ein Stapel Neues Deutschland: Ein postsozialistisches Biedermeier. Reimer spielt mit der Kuchengabel, benutzt Besteck und Geschirr als kleines Schlagzeug, zerreißt liebevoll eine Zeitungsseite, um daraus einen Papierflieger zu basteln, der abstürzt und neben einer Flotte aus Papierbötchen liegenbleibt: Die bürgerliche Stube verwandelt sich in ein Kinderzimmer oder in ein imaginäres Schlachtfeld.

Spätestens wenn Lehmann bedauert, daß er sich seinen Kindertraum, Schauspieler zu werden, nicht erfüllt hat und deklamierend auf den Sessel steigt, wird klar, daß hier einer versucht, sich an seine verschütteten Sehnsüchte zu erinnern und doch nur verzerrte Schimären zu fassen bekommt. Leider konnte in der Vorstellung, die ich sah, der Schauspieler die Konzentration der ersten Minuten nicht halten, man sah über weite Strecken nur ein mal witziges, mal charmantes Vorführen der Oberfläche: Jemand läuft ratlos und hektisch, eingesperrt in seinem Zimmer umher. Das ist vielleicht komisch, aber selten ist die Bitterkeit, die unter den Spielchen liegende Verzweiflung der Figur zu ahnen, meist sieht man nur einem eitlen Conférencier des eigenen Elends zu.

Lothar Trolle: „Die Stunde des Herrn“ (Uraufführung)/„Ein Vormittag in der Freiheit“. Volkstheater Rostock, Regie: Anne Hoffmann, Ausstattung: Christian Gätjen, Kostüme: Hermann Hennig; mit Erhardt Schmidt und Jürgen Reimer; nächste Vorstellungen: 3. und 24. Februar

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