Verfassungsrechtlich ohne Beispiel

■ Interview mit Robert Francke, Professor für Öffent- liches Recht in Bremen, zum Niederlassungsstopp

taz: Herr Francke, wie bewerten Sie die Niederlassungsbeschränkungen für Kassenärzte?

Robert Francke: Bei einer Bewertung des Gesetzes muß man sich zunächst vor Augen halten, wie das Bundesverfassungsgericht 1960 in dem bekannten Kassenarzturteil entschieden hat. Diese Entscheidung, die sich gegen damals bestehende Zulassungsbeschränkungen richtete, besagte, daß es in der damaligen Situation nicht zulässig war, Bedarfszahlen für Ärzte festzusetzen, um die Beitragssätze der gesetzlichen Krankenversicherung stabil zu halten. Die Niederlassungssperre für Kassenärzte wirke sich faktisch aus wie eine objektive Zugangssperre zum Arztberuf. Diese Einschätzung war bis in die frühen achtziger Jahre anerkannt. Dann gab es eine konzertierte Aktion von den Krankenkassenverbänden und Ärzten, um diesen Sachverhalt zu überprüfen.

Was hat sich seit 1960 verändert?

Die Arztzahlen sind viel stärker gestiegen, als das Bundesverfassungsgericht 1960 angenommen hat. Das gilt auch für die Kosten, die die gesetzliche Krankenkasse zu tragen hat, und die Beitragssätze. Eine Rolle spielen auch die fehlgeschlagenen Versuche der Kostendämpfung im Gesundheitswesen und die unerwartet und anhaltend hohe Zahl von Medizinstudenten.

Bisher lautete die allgemeine verfassungsrechtliche Überzeugung, daß Bedarfszulassungen für Kassenärzte nur möglich sind, wenn zur Sicherung der finanziellen Leistungsfähigkeit und Beitragsstabilität der gesetzlichen Krankenkassen kein anderes Mittel erkennbar ist. Eine objektive Zugangsbeschränkung erkennt das Verfassungsricht nur „zur Abwehr nachweisbarer und höchstwahrscheinlich schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut“ an.

Wie wird das Verfassungsgericht den sich abzeichnenden Niederlassungsstopp in den Ballungsräumen beurteilen?

Es macht einen großen Unterschied, ob es nur in den Ballungsräumen oder flächendeckend zu einem Niederlassungsstopp kommt. Für die verfassungsrechtliche Würdigung ist es von entscheidender Bedeutung, wieviel Prozent der Planungsbezirke künftig noch offen sein werden. Wie die Bedarfsplanung tatsächlich wirkt, hängt davon ab, wie die Bedarfszahlen des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen ausfallen.

Es spricht vieles dafür, daß die jetzt in Kraft getretene Regelung innerhalb kurzer Zeit die Wirkung einer objektiven Zulassungsbeschränkung haben wird.

Welche anderen Mittel hätte der Gesetzgeber, um den Beitragssatz stabil zu halten?

Die erste Frage ist, ob es berechtigt ist, die Ausgaben so strikt, wie der Gesetzgeber es will, an die Beitragseinnahmen zu knüpfen. Möglicherweise verursacht die Krankheitsentwicklung der Bevölkerung höhere Kosten, als an Beiträgen zur Verfügung steht. Selbst wenn man das Ziel der Beitragsstabilität akzeptiert, stellt sich die Frage, ob nicht durch eine – auch sehr weit eingreifende – Umgestaltung der Vergütung und der Aufgaben der Kassenärzte der gewünschte Effekt erreicht werden kann. Der besteht darin, zu verhindern, daß zusätzliche Kassenärzte die durch die Krankheitsentwicklung nicht begründete Mengenausweitung ihrer Leistungen auf die Krankenkassen abwälzen können. Mir scheint, daß dieser Punkt noch nicht in aller Konsequenz zu Ende gedacht worden ist. Da fehlt es noch an Konzepten.

Wie schätzen Sie die Chancen einer Verfassungsklage ein?

Da möchte ich keine Prognose abgeben. Interview: Dorothee Winden