: Verfassungswidriger Numerus clausus
■ Ein Gutachten des Marburger Bundes erklärt die Niederlassungsbeschränkungen für Kassenärzte für verfassungswidrig / Das Bundesgesundheitsministerium präsentiert sofort ein Gegengutachten
Berlin (taz) – Die Niederlassungsbeschränkungen, die das Gesundheits-Strukturgesetz (GSG) für Kassenärzte vorsieht, sind verfassungswidrig. Zu diesem Ergebnis kommt das im Auftrag des Marburger Bundes erstellte verfassungsrechtliche Gutachten, das gestern in Bonn vorgestellt wurde.
Laut Gesundheits-Strukturgesetz dürfen die regionalen Zulassungsausschüsse künftig keine Kassenzulassung mehr erteilen, wenn in einem Bezirk eine statistische Überversorgung besteht. Die Neuregelung wird in vielen Großstädten zu einem sofortigen Niederlassungsstop führen. Peter Becker, der Prozeßbevollmächtigte des Marburger Bundes, geht davon aus, daß bis spätestens 1994 auch in ländlichen Regionen keine Zulassung mehr vergeben wird. Er bewertet den regionalen und absoluten Numerus clausus für Kassenärzte als einen Eingriff in die Freiheit der Berufsausübung und der Berufswahl. Ohne Kassenzulassung drohe ärztlichen Berufsanfängern die Arbeitslosigkeit. Die Einschränkungen seien nur verfassungsgemäß, wenn sie „aus zwingenden Gründen des Gemeinwohls erforderlich sind und durch andere, mildere Maßnahmen nicht vermieden werden können.“ Bevor der Gesetzgeber zu einem so drastischen Mittel wie der Zulassungsbeschränkung greife, müßten zunächst andere Einsparmöglichkeiten im Gesundheitswesen ausgeschöpft werden.
Außerdem müsse der Gesetzgeber bei einem absoluten Numerus clausus selbst die Kriterien für den Ärztebedarf und die Auswahlkriterien bestimmen. Es gebe keine nachvollziehbaren sachlichen Kriterien für die Bedarfszahlen, die der Bundesausschuß Ärzte und Krankenkassen bis zum 9. März erarbeite.
Der Vorsitzende des Marburger Bundes, Frank Ulrich Montgomery, räumte ein, daß mehr niedergelassene Ärzte mehr Leistungen und damit auch mehr Kosten an Medikamenten und Heilmitteln verursachten. Dieses Problem könne aber nicht mit Zulassungsbeschränkungen, sondern nur mit einem anderen Vergütungssystem gelöst werden. Die Honorare sollten sich statt nach Einzelleistungen je nach Arztgruppe, Patientenzahl und Krankheitsbildern richten. Rechtsanwalt Becker argumentierte, das GSG sehe bereits eine Reihe von Maßnahmen vor, um die durch Ärzte veranlaßten Folgekosten zu begrenzen. Die Arzneimittelpreise würden eingefroren und die Ausgaben für Medikamente und Heilmittel ebenso begrenzt sowie der Anstieg der Arzthonorare. Nach Ansicht von Becker hätte der Gesetzgeber erst einmal abwarten müssen, wie sich diese Neuregelungen auswirken: „Wenn die Maßnahmen greifen, sind die Zulassungsbeschränkungen überflüssig.“
Als weiteres Argument führte er den Konkurrenzschutz an, den die Regelung den bereits niedergelassenen Ärzten beschert. Abgewiesene Bewerber könnten legitimerweise nach dem Rechtsgrund fragen, der sie von den Pfründen auszuschließen erlaube, während die bereits Zugelassenen quasi eine Einkommensgarantie erhielten.
Eine Verfassungsklage wollen auch die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung und die MedizinstudentInnen einreichen. Der medizinische Nachwuchs ist am stärksten betroffen. Die „Koordinierungsgruppe von Studenten und Ärzten zu Fragen des Gesundheitswesens“ rechnet damit, daß jährlich zwei Drittel der 10.000 Medizin-Absolventen arbeitslos werden.
Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) präsentierte gestern ein Gegengutachten, das die Beschränkung der Kassenzulassung von Ärzten für verfassungskonform erklärt. Darin heißt es, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1960, das die damalige Zulassungsbeschränkung für verfassungswidrig erklärt hatte, stehe der Neuregelung nicht entgegen. Arzt- und Patientenzahlen hätten sich anders als damals erwartet entwickelt. Dorothee Winden
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