Zwischen den Rillen: Späte Blüten
■ Verknittert, aber nicht (wirklich) verbittert: Calvin Russell und Elliott Murphy
Der Mann hat schon einiges erlebt – den Fotos auf den Plattencovern nach zu urteilen. Ob Calvin Russell aus Austin, Texas, nun auf der ersten LP im Halbschatten eines Hauseingangs steht, das zerfurchte Gesicht unter dem Hut (Markenzeichen!) kaum zu erkennen, oder ob er uns auf „Sounds from the 4th World“ schattenhaft, mit weit aufgerissenen Augen entgegenstarrt wie weiland Bela Lugosi in „Plan 9 from outer space“, diesem abgründig schlechten und doch amüsanten C-Picture – immer ist es besagte pockenvernarbte Jürgen-Prochnow-Lederhaut, die den Blick gefangennimmt.
Da schadet es auch nichts, daß auf „Soldier“, der aktuellen Platte, Russells Konterfei auf die Rückseite gewandert ist (die Vorderseite ziert ein wunderschönes Landschaftsfoto, karg, aber edel): dieses Bild von einem Mann hat sich längst eingeprägt. Und, mal im Ernst: Der Mann gefällt sich nicht nur in der Outlaw-Pose. Man nimmt Russell seine blues- (weniger) und country-(mehr)getränkten Songs auch ab, glaubt ihm irgendwie, wenn er von den Gefallenen und Ausgeschlossenen dieser Welt singt. Russell läßt seine Figuren im Gefängnis leiden oder im kärglichen Zuhause nicht einschlafen, weil sie immerzu daran denken, wie unten in der Küche Ratten und Kakerlaken die letzten von der Sozialhilfe gekauften Bohnen fressen. Sie können an nichts glauben, sagen diese Helden, die sich in ihren eigenen home towns als Fremde fühlen, und auch Russell selbst verkündet nicht ohne Stolz: „I'm just a person, I don't claim a country, I don't need a flag to say who I am.“
Unterstützt von einer Handvoll Begleitmusikern und sehr fein produziert vom alten Haudegen Jim Dickinson – einst Techniker u.a. bei den Stones, aber auch auf dem Produzentensessel bei den wesentlich jüngeren Green On Red –, beackert Russell ein weites musikalisches Feld, zelebriert echten Country-Blues („Rats and Roaches“), schlägt sich durch handfeste Rocknummern („Down In Texas“) oder klingt ganz und gar folkig („I Dreamed I Saw“). Hitverdächtig ist der Titeltrack, ein karges, ohrwurmiges Kleinod. Stärkstes Stück auf „Soldier“ ist aber „This Could Be The Day“, solo auf der Gitarre gespielt, schlichte Musik, wenig Worte, fast youngesk. Entdeckt wurde Russell übrigens von Patrik Mathé, dem Chef der kleinen Pariser Firma „New Rose“, der sich seit mehr als zehn Jahren um die ganz Jungen und ganz Alten der Rockszene kümmert und sie in Lohn und Brot setzt – ob sie nun Roky Erikson, Sky Saxon, Alex Chilton oder Chris Bailey heißen.
Oder auch Elliott Murphy. Während Russell doch eher fürs Bodenständige steht, ist Elliott James Murphy der urbane Loser. Während der Texaner trotz seiner 45 Jahre ein Newcomer ist, kann der Wahl-New-Yorker (der mittlerweile allerdings in Paris lebt) auf eine gut 20jährige Musikerkarriere zurückblicken. Nicht ohne Höhen und Tiefen, wie man so sagt. Anfang der Siebziger galt der Velvet-Underground-Fan (er schrieb die liner notes zur legendären VU-Live-LP „1969“) als gelungene Kreuzung von Dylan und Bowie, später zogen ihn die großen Plattenfirmen mehrfach über den Tisch. Ende der Siebziger tauchte Murphy ganz in den Alkohol ab, zog sich aber selbst wieder da raus – wohl nicht zuletzt durch seine autobiographisch gefärbten Kurzgeschichten (unter dem Titel „Kalt und elektrisch“ vor zwei Jahren auf deutsch erschienen). Erst Mitte der Achtziger kam Murphy, der sich auch als Musikjournalist (u.a. für den Rolling Stone) einen Namen gemacht hat, zur Ruhe. Mit New Rose hat er jetzt eine Firma hinter sich, die ihn stützt, ihm zur späten Blüte verhilft und sicherlich mitverantwortlich dafür ist, daß die treuesten Fans heute in Europa sitzen.
Seiner letzten Studioproduktion, dem phantastischen, sehr persönlichen Doppelalbum „12“ folgt nun eine Art Greatest- Hits-LP seiner New-Rose-Zeit. Songs, die früher auch als Spät- Wave durchgegangen wären, rockiger sind als die Stücke auf „12“, oft aber auch Folk-Anleihen zeichnen oder die Handschrift der mitwirkenden Musiker/Produzenten tragen – ob das nun das Rhythmusgeflecht der Talking Heads auf dem von Jerry Harrison mitproduzierten „Clean It Up“ ist oder die Rockgitarre von Chris Spedding auf den Live-Aufnahmen der Murphy-Oldies „Rock Ballad“ oder „Diamonds In The Yard“. Wunderbar auch der typische Baß von Violent- Femmes-Mitglied Brian Ritchie im ausufernden „Party Girls & Broken Poets“, dem letzten der dreißig Songs.
Murphys Texte – mal sind es persönliche Jugenderinnerungen, mal kleine Geschichten, sentimental oder analytisch – sind gespickt mit Hinweisen auf die amerikanische Kultur und Politik. Aufdringlich kommen sie nie daher, selten geschmäcklerisch, manchmal dandyhaft – eines von Murphys Vorbildern ist F. Scott Fitzgerald. Man erfährt das– neben vielem anderen – im Titel „On Elvis Presleys Birthday“, einem Song von „12“, in dem Kindheitserlebnisse mit dem Vater besungen werden. Wir erfahren weiter, daß selbiger, der übrigens eine Wasser-Varieté-Show namens „Aqua Show“ führte (Murphy benannte seine erste LP danach), nie ein gutes Wort über Franklin Delano Roosevelt zu sagen wußte.
Immer wieder münden die Songs auch in die Reflexion über das Songschreiben, besonders schön in „Sicily“, dem zweiten Titel aus „12“ auf dieser Compilation: „Some say my songs are long and are too complicated, they're highly personal – some say I'm overrated.“ Thomas Bohnet
Calvin Russell: Soldier
Elliott James Murphy: New York/Paris (beide New Rose)
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