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SchülerInnen: Ideologische Knetmasse?

■ betr.: "Wir müssen an Herz und Bauch ran" etc., Tagesthema, "Die Schule versagt bei uns zur Zeit", Portrait C.-K. Muyemba, taz vom 27.1.93

betr.: „Wir müssen an Herz und Bauch ran“ etc., Tagesthema, „Die Schule versagt bei uns zur Zeit“, Portrait C.-K. Muyemba,

taz vom 27.1.93

Wenn Kinder eingeschult werden, sind sie keine unbeschriebenen Blätter. Die meisten von ihnen haben nicht die Zuneigung und das Interesse erfahren, um den neuen Lebensabschnitt unbelastet und mit Freude und Neugier beginnen zu können. Im Gegenteil. In die Schule kommen viele Kinder und Jugendliche, die mit Vernachlässigungen, Mißbrauchs- und Gewalterfahrungen leben müssen. Sie sind dann ihrerseits gestört in ihren Wahrnehmungen und ihrem Gefühlsleben, sind zurückgezogen, unruhig, nicht konzentrationsfähig, unsozial im Verhalten oder auch selbst gewalttätig. Eine Schule, die sich diesen Realitäten nicht stellt, muß scheitern.

Hier kann nicht angesetzt werden mit schierer Wissenseinpaukerei, aber ebensowenig mit Flickwerk aus der antiautoritären Mottenkiste (ich dachte, diese Zeiten seien ohnehin schon vorbei!).

In meiner eigenen Berufspraxis als Lehrerin habe ich erfahren, daß SchülerInnen vor allem wohlwollende Zuwendung brauchen, Orientierung durch konsequentes und sie ernstnehmendes Verhalten, Gelegenheit, ihre Gefühle zu äußern sowie Anleitung dabei, innere Ruhe zu finden. Von all dem hat Schule – und da sind Gesamtschulen mitnichten ausgenommen – nur sehr wenig zu bieten. LehrerInnen sind zwar als WissenvermittlerInnen mit großem Aufwand ausgebildet worden, nicht aber als menschliche BegleiterInnen von Kindern und Jugendlichen. So häufig sind wir pädagogischen Extremsituationen ausgesetzt, auf die wir aus unserem eigenen, individuellen psychischen Hintergrund heraus – und mit Sicherheit nicht immer angemessen – reagieren.

Fortbildungen im klassischen Sinn reichen hier in meinen Augen nicht aus. Ständige Supervisionen, vielleicht auch spezielle Therapieangebote für LehrerInnen, die selbstverständlich Teil der Arbeitszeit sein müßten, könnten eine wesentliche Forderung sein.

[...] Es mag erstaunen, daß hier mehr die Rede von LehrerInnen als von Erziehung, Unterricht und SchülerInnen ist. Aber dieser Faktor ist in meinen Augen bisher sträflichst vernachlässigt worden. Statt dessen wird auf Technisches gestarrt – Gruppenunterricht, Ganztagsschule, Behandlung spezieller Unterrichtsthemen... um das Gespenst des Rechtsradikalismus zu bannen.

Wir lernen den Umgang miteinander im Umgang miteinander. Und wir können für SchülerInnen wichtige Orientierungspersonen sein. Das setzt gerade heute gefestigte Persönlichkeiten auf seiten der LehrerInnenschaft voraus. Und die sind – wie in allen anderen Gesellschaftsbereichen auch – (die KollegInnen mögen es mir verzeihen!) rar gesät. Sabina Suhrmann, Vlotho

Hätte man die kritischen Analysen zu Bildungsreform und Gesamtschulkonzept eines sozialistischen und leider in einem etwas antiquierten (und daher für Nichtphilosophen schwer verständlichen) Deutsch schreibenden Bildungstheoretikers und Philosophen wie Heinz-Joachim Heydron ernst genommen, müßte man heute nicht in den schon damals prognostizierbaren Katzenjammer ausbrechen.

Nein, nicht die mangelnde Vermittlung (und sei's auch mit „Afrikanern zum Anfassen“) von sogenannten „Werten“, über deren angeblichen Verlust in überraschend einmütig konservativem Gestus Rechte, Grüne und neuerdings auch „Linke“ lamentieren, sondern die fehlende Reflexion auf die historisch-gesellschaftliche Bedingtheit (im doppelten Wortsinn!) der Institutionen, Beurteilungsmaßstäbe und auch der eigenen Weltbilder (sic!), die überhaupt erst reale (!) Handlungsspielräume (die in der Regel größer sind als angenommen) aufzuzeigen vermag, war und ist das Problem der Pädagogen. „Die Bildung weigert sich, der Herrschaft eine Rechtfertigung zu leihen... Die Analyse ist die Bedrohung, nicht das Ergebnis“, hatte Heydorn einst mit Bezug auf Sokrates' Tod geschrieben. Die populäre Vorstellung, Aufklärung durch Erziehung bewirken zu können, ist das Fatale – aber welcher „Pädagoge“ kennt noch den Unterschied?

Noch in Adornos scheinbar kulturkonservativer und perspektivloser „Theorie der Halbbildung“ liegt mehr Hoffnung und mehr „utopische“ Handlungsrelevanz (aber wer liest Adorno heute noch so?) als in jedem noch so selbstkritisch anmutenden Bezug auf den abscheulichen (und historisch desavouierten) Begriff des „Wertezerfalls“. Wer sich nicht mehr traut, vom – wie auch immer fernliegenden – Fluchtpunkt der Freiheit her zu argumentieren, und statt dessen mit (ewigen?) „Werten“ kommt, hat schon aufgegeben – nicht zuletzt sich selbst! Olaf Rahmstorf,

Pädagogikstudent, Zürich

Zu den Artikeln fällt mir ein prägnantes Gedicht ein; es ist von Erich Fried.

Kinder und Linke

Wer Kindern sagt

Ihr habt rechts zu denken

der ist ein Rechter

Wer Kindern sagt

Ihr habt links zu denken

der ist ein Rechter.

Wer Kindern sagt

Ihr habt gar nichts zu denken

der ist ein Rechter

Wer Kindern sagt

es ist ganz gleich was ihr denkt

der ist ein Rechter

Wer Kindern sagt

was er selbst denkt

und ihnen auch sagt

daß daran etwas falsch sein könnte

der ist vielleicht

ein Linker.

(aus „Die Kinder dieser Welt“, Gedichte aus zwei Jahrhunderten“, Fischer Verlag) Anke Jahn, Erfurt

[...] Daß sich Schefflers Aussagen als ein pädagogisches Strohfeuer entpuppen, wird spätestens dann klar, wenn mensch den angerissenen Diskurs von dem (auch von der taz durch Walter Jakobs aufgegriffenen) leidigen Links-rechts- Schema innerhalb der Grünen befreit:

–Scheffler sieht die Korrelation zwischen SchülerInnen und LehrerInnen zu eindimensional, um einen interessanten Aspekt aufwerfen zu können: SchülerInnen nehmen eineN LehrerIn doch in aller Regel nicht aufgrund seines eventuell politischen oder pädagogischen Hintergrundes wahr, sondern aufgrund des Umgangs miteinander. Sicher, eine „luschig“ und unengagiert wirkende Lehrperson wirkt – zunächst aber eher persönlich als politisch – abstoßend auf SchülerInnen. Ebenso gibt es aber auch LehrerInnen, die Engagement und die vielzitierten Werte positiv darzustellen in der Lage sind und den Diskurs – auch darüber – mit den SchülerInnen nicht scheuen. Egal ob links, ob rechts. Wenn SchülerInnen ernst genommen werden, wissen sie zunächst das zu schützen – die politische Auseinandersetzung kann danach folgen.

–Abgesehen von der politischen Ungeschicklichkeit ist Schefflers Aussage pädagogisch bedenklich. Auch wenn sie ein komplexes Ursachengefüge einräumt, erweckt schon die Art und Weise, in der sie die SchülerInnen-LehrerInnen- Beziehung dafür verantwortlich macht, den deutlichen Eindruck, als seien SchülerInnen für sie ideologische Knetmasse der LehrerInnen, die gleichsam einen Negativabdruck zu bilden genötigt sind. Den SchülerInnen in diesem Punkt Entscheidungs- und Wertefindungskompetenz abzusprechen führt lediglich in einen anderen Grad der falschen Richtung: Gerade dann fühlen sich SchülerInnen wohl nicht ernstgenommen, gerade dann sind sie zu einem Diskurs nicht bereit, der für beide Seiten bereichernd sein könnte.

–Nur am Rande, deswegen allerdings nicht weniger interessant, bleibt die Fragestellung, „woher“ denn die zumindest halblinken, kritischen SchülerInnen „kommen“, die gegen den Golfkrieg, gegen die Bildungszerschlagungsmaßnahmen der SPD-Landesregierung in NRW und auch gegen AusländerInnenfeindlichkeit demonstriert haben – von den rechten LehrerInnen?

Das Wirkungsgefüge ist überhaupt nicht so auslotbar, um flugs aus den Angeln gehoben zu werden. Gefragt sind jetzt aber nicht Halsüberkopfreaktionen, wie die von Frau Scheffler, mit denen sie sich seit Wochen zumindest in den NRW-Medien hält. Bezeichnenderweise kann sie das, weil die Gruppen, die gefragt wären – einzelne LehrerInnen ebenso wie etwa die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft –, in dieser Frage stocksteif zu verharren scheinen.

Sie trauen sich offensichtlich so lange nicht, die Badewanne anzurühren, bis sich das Kind im Badewasser aufgelöst hat. Sebastian Lovens, Duisburg

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