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Heringsschwanz und Vollmond

Als meine Warze weggemurmelt wurde ... Der Bericht eines Selbstversuchs  ■ Von Thomas Worm

Warzen sind eines der letzten großen Geheimnisse unserer Zeit, wirklich. Auch so lütte wie an der Innenseite meines rechten Oberarms. Warum die ekligen Hornbuckel plötzlich erscheinen und weshalb manche „Weiblein“ es vermögen, sie fortzuraunen, weiß niemand genau. Von einer anteilnehmenden Tante – „das bleibt unter uns“ – bekam ich die Adresse der Frau R. zugesteckt, denn die Tante hatte vom Gegenstand meiner nervösen Pulereien erfahren: erbsengroß und blumenkohlartig zerklüftet – verruca vulgaris, die gemeine Warze.

Für einen Moment, als sich die Wohnungstür der Dame öffnet, ist der Klischeeverwöhnte in mir zutiefst enttäuscht. Keine Fransenstola, keine abgründigen Lidschatten, kein hüftlanges Haar zum anrüchigen Dutt aufgetürmt. Ganz anders steht Frau R. vor mir: etwas mollig, eher Hausmuttertyp, kastanienbraune Dauerwelle, in schlichter Bügelfaltenhose. Und sie hat beeindruckend klare Augen. Nach einer zwanglosen Begrüßung sinke ich, vom Radfahren verschwitzt, in den Couchsessel. Kann es mir nicht verkneifen und frage sogleich, wie Frau R. zu ihrem Handwerk, dem Besprechen, gekommen sei. „Wenn man es hat, braucht man es nicht mehr zu lernen.“ Sssst – staunend und neidisch zugleich ziehe ich die Luft durch meine Zähne. Während mein rechter Arm lässig auf der Sessellehne ruht, gleiten meine Gedanken zu einem Nordseestrand in den vierziger Jahren, wo meine Oma auf Anraten meiner Urgroßoma meiner Mutter – damals noch ein kleines Mädchen – bei Vollmond einen abgeschnittenen Heringsschwanz auf ihre Warze legte. Kaum zu fassen, aber das Ding verschwand.

Inzwischen kniet Frau R. neben mir und begutachtet das Wärzchen, und als habe sie mich ertappt: „Nicht rumpolken. Sie wissen, das gibt Hautkrebs.“ Auf meiner Stirn wird's schubartig zehn Grad wärmer. Übergangslos beginnt Frau R. etwas Unverständliches zu murmeln und streicht mit Zeige- und Mittelfinger in kreuzförmigen Bewegungen über die Stelle. Dabei verbreiten ihre Finger eine schwache Hitze auf der Haut – nur: Sie berühren sie nicht ein einziges Mal, sondern schweben wenige Zentimeter darüber. Merkwürdig, das Ritual des Brummelns, das ein bis zwei Minuten dauert, kommt mir selbstverständlich vor, bin weder peinlich berührt noch in mystische Nebel getaucht.

„Die Warze wird weggehen“, sagt dann Frau B. entschieden und richtet sich auf, „die beachten sie jetzt einfach nicht mehr.“ Denkste, denke ich, und mache mich auf. Wir verabreden einen Termin in genau einer Woche. „Frau R., darf ich Ihnen etwas geben?“ Ich darf – es sind 20 Mark – und sage Tschüß. Ich bin auf der Hut; die Einträge in meinem Warzentagebuch offenbaren das einsetzende Siechtum, die Wärmestrahlen von Frau R.s Fingerspitzen haben dem tückischen Warzen-Virus offenbar eingeheizt: „Einige Tage nach der ersten Behandlung gleicht die Warze einem Miniaturkorken, sie scheint ausgezehrter.“ 26.7.: „Aufmerksamkeit vergrößert das Objekt. Der verhornte Nippel wirkt wie ein Colorado-Felsen, der von den Flanken her austrocknet.“ 27.7.: „Teil der ,Kappe‘ klappt ab.“

Bei meinem zweiten Besuch ist Frau R. sichtbar zufrieden mit mir. „Sie reagieren sehr gut.“ Die Zeremonie wiederholt sich. Plötzlich schaut ein Kind, inmitten riesiger Spielzeuge, aus dem Nebenzimmer herüber, vorbei an den mächtigen Falten der weinroten Trennvorhänge. Kühle spricht aus den dunklen Augen. „Das ist meine fünfjährige Tochter, die kann es auch schon.“ Und wenn die es mal nicht zum Heilen anwendet, überlege ich, sondern um bei anderen Auaaua zu machen, und mir fällt der kleine bösartige Racker aus dem Horrorfilm „Das Omen“ ein. Jedoch, ich fange mich.

Und dann erzählt mir Frau R., daß diese Fähigkeit bereits 1624 in ihrer Familie einsetzte, zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges also. Es vererbe sich immer aufs Kind, und das könne auch ein Junge sein. Die geflüsterte Botschaft richte sich jedesmal an einen bestimmten Krankheitsherd, doch sei der Wortschatz für sich allein nutzlos. Die kurierenden Formeln der Familie R. werden demnach von Generation zu Generation weitergegeben – gleichsam esoterische Software, die allerdings ohne das ererbte Blut kein Heilprogramm zum Laufen bringt. Es läßt Frau R. Wundrosen, Migräne, Herpes und offene Beine heilen. – Leider ist die Audienz schon wieder beendet.

Als ich schließlich nach einer Woche ein drittes und letztes Mal zu Frau R. komme, bröselt die Warze in kleinen Hornstückchen ab. Das Ritual ist mittlerweile Routine, der Erfolg liegt praktisch auf der Hand. Gerührt verabschiede ich mich von Frau R., die ich versehentlich als „Madame“ R. tituliere.

Tja, heute ist es ein Genuß für mich, die Blicke von Freunden auf meiner Innenarmhaut spazieren zu führen, ohne daß es ihnen gelingt, „die Stelle“ auszumachen. Ihr von Zweifeln durchsetztes Erstaunen – wunderbar. Dabei war ich es, Namensvetter des Ungläubigen, den die Skepsis umtrieb. Und es funktioniert. Warzhaftig!

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