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■ André Gorz ist 70Links und frei

Seine Biographie läßt an Rousseau denken. Halbwüchsig aus seiner Vaterstadt, dem Milieu seiner Familie, den Werten seiner Gesellschaft ausgestoßen, wird er zum Sozialtheoretiker in Frankreich, im Land der raison. Nicht kraft Ausbildung, Akademie und Beruf, sondern nach einer Reihe von Wanderjahren und Gelegenheitsjobs: Botschaftssekretär, Presseattaché, philosophischer Journalist. Durch Berufung. Durch Begegnung mit der Freiheit – als einer radikalen Frage, die die eigene Identität betrifft: Kann ich (sein) wollen, was ich bin? Beide sollten sich auf der Höhe des gesellschaftlichen Erfolges vom kritiklosen Modernismus der Pariser société und ihrer philosophes zurückziehen. Der eine von einer Karriere als Bestsellerautor von Operetten und Romanen. Der andere gibt die Stellung als stellvertretender Chef des Nouvel Observateur auf und zieht sich – grün bis in die Knochen – in ein Dörfchen tief in der lausigen Provinz zurück, wo er seine „Kritik der ökonomischen Vernunft“ schreibt (1989, demnächst als Taschenbuch). – Beider Thema sind die Widersprüche von Freiheit und Identität in der Moderne – die zivilisatorischen Folgen lebensweltlicher Entfremdung und die politische Utopie sozialer Gerechtigkeit. Doch der geborene Wiener nimmt bei allem Hader mit dem opportunistischen „Paris“ den konträren Zeitgeist weitaus weniger verbiestert auf als der Citoyen de Genève mit seinem Verfolgungswahn. Er hat Humor. Und „man muß einen Anfang machen“ – mit der Sozialreform, der Arbeitszeitverkürzung, der ökologischen Selbstbeschränkung.

Rousseaus „Bekenntnisse“ waren die wohl radikalste, also modernste Selbstbehauptung im 18.Jahrhundert der Lumières, Behauptung auch gegen die Moderne. Eine der radikalsten Auto- (psycho-)analysen aus dem existentialistischen Sturm und Drang der fünfziger Jahre des 20.Jahrhunderts war „Der Verräter“ (1958, deutsch 1980) von André Gorz. Also demjenigen aus der Sartre-family, der weder sozial oder national noch kulturell oder habituell (sex & drugs & modern jazz) im swinging Paris der rive gauche-Literaten verwurzelt war. In Stichworten: Sohn eines Wieners, 1938 nach dem Anschluß Österreichs an Großdeutschland auf ein Schweizer Internat geschickt, später Ingenieurstudium in Lausanne, nach dem Krieg dann Paris, Jobs, Journalismus, Temps Modernes, Selbstverwaltungslinke, Vorbereiter der 68er Bewegung, politische Ökologie, „Abschied vom Proletariat“ (1980)...

Im „Bewußtsein seines Exils“, als soziales Nichts, war Gorz in Sartres Schriften auf die philosophische Frage des aktiven néant gestoßen: die Infragestellung der Situation, in der man sich findet, als Bedingung dafür, das eigene Leben selbstbewußt (aber auch: gefühls-, angst-, leibbewußt) zu übernehmen. Das Thema des „Verräters“, aber auch seiner nie übersetzten „Fondements pour une morale“ (1946–1955). Vielleicht ist er darum der radikalste sozialpolitische Leser Marx' unserer Tage geworden – und geblieben. Der Zusammenbruch des „irrealen Sozialismus“ hat für Gorz keine der Marxschen – also auch: Kantschen, Rousseauschen – Fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit freier Assoziation beantwortet, geschweige denn erledigt. What's left? Eine bloße Rationalisierungsmoderne, die die Subjekte nicht zur Vielfalt ihrer Lebenschancen befreit, bleibt ein unvollendetes Projekt – darin ist sich Gorz mit Alain Touraine („Critique de la Modernité“, 1992) einig. Erst recht für die politische Ökologie.

Gorz' letzter Arikel erschien nicht in einem Pariser Intellektuellenblatt, sondern in Partages, dem Bulletin einer Initiative zur Umverteilung von Arbeitszeit und Arbeitsplätzen. Er kritisiert jene Form der Ökologie, die mittlerweile auch im modernisierungsgläubigen Frankreich hoffähig geworden ist – die Öko-Expertokratie: Umweltexperten geben dem politischen System die Vorgaben. Belastbarkeiten des Ökosystems, nichterneuerbare Ressourcen, Risiken dieser oder jener Technologien... Und die Politexperten implementieren die ökologischen Imperative in Steuern, Gesetze, Produktionsgenehmigungsverfahren, Abfallverordnungen...

Durch eine derartige ökologische Reform aber werde jene systematische „Fremdsteuerung“ als Grundmechanismus der gesellschaftlichen Koordination nur noch verstärkt, die schon die kapitalistische Verselbständigung des Marktmechanismus und die bürokratische Enteignung von Politik auszeichnete. Gesetzt gar, eine solcherart „ökologische Moderne“ vermöchte das physische Überleben der Spezie Mensch zu „organisieren“; sofern sie dies „unabhängig von den Intentionen der handelnden Subjekte“ täte, sicherte sie doch keine Menschheit. Im bekannten Sinne Immanuel Kants: die Person jedes einzelnen als Zweck, nicht bloß als Mittel für fremde Zwecke zu achten.

Ohne Bezug auf die personale und soziale Lebenswelt der Individuen – auf ihre emotionalen und rationalen Fähigkeiten zur Selbstbeschränkung – bleibt auch eine ökologisch implementierte „Megamaschine“ der Wirtschaftsgesellschaft freiheitsfeindlich. Vielleicht geht André Gorz jetzt gerade in den Garten, zu sehen, ob die selbstangebauten Gemüse und Kräuter auch ausreichend gegen den Frost gesichert sind. Oder er setzt für Dorine – seit Jahrzehnten seine Gefährtin – den Tee auf.

Nur innerlich freie Menschen können materielle Selbstbegrenzung üben, um den sozialen und personalen Reichtum von „Menschheit“ (in meiner und der Person jedes anderen) jenseits des Reichs der ökonomischen Rationalität zu erfahren, zu entdecken, zu erfinden. Gorz ist weit eher der Seelenruhe antiker Freidenker, eines Epiktet oder Plutarch, und moderner Skeptiker (Montaigne, aber ohne Turm) verwandt als Rousseau, dem einsam hadernden Spaziergänger auf den Champs-Elysées. Gestern vor 70 Jahren wurde er als Gerhard Horst, Sohn eines Jacob Hirsch, in Wien geboren. Die Wiener werden's bestimmt wieder verschlafen haben...

Da kocht das Wasser. It's tea- time, Dorine. Otto Kallscheuer

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